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Die Time Catcher

Die Time Catcher

Titel: Die Time Catcher
Autoren: Richard Ungar
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abzuwarten, bis man wieder fit ist. Das kann Stunden oder in schweren Fällen einen ganzen Tag dauern.
    Aus diesem Grund hat Onkel alle Missionen in die Vergangenheit auf maximal dreißig Minuten begrenzt. Mit Fürsorglichkeit hat das allerdings nichts zu tun, sondern mit der banalen Erkenntnis, dass niemand mehr für ihn stehlen kann, wenn wir alle vom Zeitnebel umgebracht werden.
    Falls ein Catch – so nennen wir unsere Beutezüge – also nicht binnen dreißig Sekunden über die Bühne gegangen ist, gilt die Mission als gescheitert. Nach der ersten gescheiterten Mission wird man lediglich in Onkels Büro zitiert und muss sich von ihm eine Standpauke anhören. Doch wenn es zwei Mal in einem Monat passiert, muss man mit weitaus schlimmeren Konsequenzen rechnen – wie schlimm es wird, hängt von Onkels Laune ab. Beim dritten Mal wird man sprichwörtlich in die Wüste geschickt – in eine trostlose und unwirtliche Gegend, in der es niemand länger als einen Monat aushält, ohne durchzudrehen.
    Ein Kichern erregt meine Aufmerksamkeit. Als ich mich umdrehe, erblicke ich einen kleinen Jungen, der ein rotes T-Shirt mit der Aufschrift BEIJING 2060 und dem Bild eines Pandabären trägt. Er rennt an mir vorbei in die ausgebreiteten Arme seines Vaters. Gebannt schaue ich zu, wie der seinen Sohn in hohem Bogen durch die Luft schwingt, ehe er ihn sanft wieder absetzt. Auch die Mutter des Jungen hat die Szene beobachtet und nun fallen sie sich alle lachend in die Arme.
    Mein Herz setzt einen Schlag aus. Ich frage mich, wie sich der Junge jetzt fühlt. Bestimmt sicher und geborgen. Das muss wundervoll sein. Zu wissen, dass man geliebt wird. Zu wissen, dass man einer richtigen Familie angehört.
    Ich habe beides nie erlebt.
    Keine Mutter. Keinen Vater. Weder Brüder noch Schwestern. Im reifen Alter von drei Jahren wurde ich zur Adoption freigegeben. Das bin ich: Caleb, 13 Jahre, Vollwaise und zeitreisender Dieb, Letzteres seit nunmehr 10 Jahren.
    Onkel habe ich es immerhin zu verdanken, dass ich drei anständige Mahlzeiten am Tag bekomme und in den anderen Time Catchern Kumpel habe, die alle mehr oder minder in meinem Alter sind. Uns eine Familie zu nennen, wäre allerdings stark übertrieben.
    Zu Beginn war das noch anders. Da benahm Onkel sich wie ein richtiger Onkel und nahm mich sowie die anderen Kinder, die er adoptiert hatte, auf Expeditionen mit. Im Zoo zeigte er uns die geklonten Schneeleoparden und sprechenden Schimpansen, die fluchten und schimpften, wenn man ihnen zu nahe kam. Außerdem unternahmen wir spannende Ausflüge zu Museen, Kunstgalerien und Konzerten – nicht nur in den USA , sondern auf der ganzen Welt. Onkel sagte, die Welt selbst sei unsere Lehrerin. Er gab uns sogar einen eigenen Namen – die fünf Weltwaisen.
    Doch plötzlich, vor ein paar Jahren, veränderte sich alles von Grund auf. Onkel wurde launisch und unberechenbar. Von da an konnte er von einem auf den anderen Moment bitterböse werden. Er war imstande, sein Taschenmesser zu zücken und damit zu drohen, uns einen Finger abzuschneiden. Eigentlich glaube ich, dass er schon immer verrückt war, es früher nur besser verbergen konnte. Abbie, mein langjähriger Kompagnon und engster Freund – Korrektur: mein einziger Freund, genauer gesagt meine einzige Freundin von klein auf –, glaubt, dass er eine Art Nervenzusammenbruch hatte. Onkel ist auf jeden Fall sehr schwierig geworden, also versuche ich, mich von ihm fernzuhalten, was allerdings so gut wie unmöglich ist. Denn zum einen leben wir unter ein und demselben Dach, zum anderen ist er die Sorte von Boss, die seine »T ime Catcher«, wie er uns nennt, ständig unter Kontrolle hält.
    Die Menschenmenge läuft jetzt auseinander. Ich sollte einen geschäftigen Eindruck machen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Ich werfe einen letzten Blick zum Dach der Großen Halle hinauf. Dort flattert er im Wind, der Gegenstand, dem ich es zu verdanken habe, dass ich ein Jahr in die Vergangenheit und siebentausend Meilen nach Westen gereist bin: die Fahne der Großen Freundschaft. Um ehrlich zu sein, hat sie nichts Besonderes an sich, sondern besteht aus waagerechten gelben, roten, blauen und weißen Streifen – eine Kombination aller Farben der chinesischen und der amerikanischen Flagge. Doch ihr Aussehen ist mir egal. Ich will sie ja nur stehlen, sonst nichts.
    Ich eile zum Park, der sich vom großen Platz aus auf der anderen Straßenseite befindet. Bis die Sonne untergeht, wird es noch ein paar Minuten
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