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Die Teufelssonate

Die Teufelssonate

Titel: Die Teufelssonate
Autoren: Alex van Galen
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Ruhe.
    Jetzt dreht sie die Schere in der blutigen Masse herum. Er kann es nicht mehr mit ansehen und fleht sie an, ihm die Schere zu geben. Aber sie hört nicht auf, und ihm wird übel beim Anblick ihrer Arme und des wilden Blicks in ihren Augen.
    Er stürzt auf sie zu, und es folgt ein Kampf – nicht aus Wut oder Haß, sondern ein verzweifelter Kampf, um ihre Liebe zu erhalten, um sie zu retten. Sie windet sich los und weicht ängstlich zurück. Er ist über und über mit ihrem Blut beschmiert. Er will sie warnen, doch sie hat Angst, daß er ihr weh tun will, und tritt noch einen Schritt zurück … Gerade als er sie fassen kann, entgleitet sie seinen Händen und stürzt in die Tiefe.
    Er schreit ihren Namen, aber es ist still da unten. Und dunkel.
    Er rennt die Treppen hinab, um ihr zu helfen. Doch er weiß nicht, wie er dorthin kommen soll, an den untersten Punkt des Schachtes. Er muß einen Krankenwagen holen! Er rennt hinaus auf die Straße, aber es ist Nacht, es ist niemand unterwegs. Er rennt in eine andere Straße und klingelt wahllos an Wohnungstüren. Niemand öffnet.
    Er muß rennen, vielleicht irgendwo ein Taxi anhalten, aber wo? Er kennt sich hier nicht aus. Rennt auf gut Glück in wieder eine andere Straße, doch die ganze Gegend ist ihm fremd. Da nähert sich jemand! Er hält den Mann an. Er versucht ihm zu erklären, daß ein Krankenwagen gebraucht werde. Ein Unfall, ein schrecklicher Unfall! Der Mann fragt, wo der Verletzte denn liege, aber Notovich kann das Gebäude nicht angeben, weiß nicht mehr, aus welcher Straße er gekommen ist.
    Die Häuser drehen sich um ihn herum, und er sinkt langsam weg, immer weiter weg, ins Tiefste seiner Seele, wo kein Schmerz mehr herrscht und keine Erinnerung wohnt.
 
    Er kam zu sich, als er seinen Namen rufen hörte. Erst aus der Ferne, dann immer näher.
    »Mischa!«
    Eine Taschenlampe wurde heruntergeworfen. Er versuchte, danach zu greifen, aber es war, als ob sein ganzer Körper auf einmal in Brand stünde.
    Er war offenbar noch am Leben.
    Da hörte er wieder Stimmen.
    Ein ruckelndes Licht kam auf ihn zu. Ein Bergmannshelm.
    Er hat Glück gehabt , sagte jemand. Diese Bretter haben seinen Sturz abgefangen. Der andere ist mausetot.
    Wo war Valdin? Nicht hier, anscheinend. Hatten sie ihn schon weggeschafft?
    Er mußte sich anstrengen, wach zu bleiben, zwinkerte mit den Augen, schüttelte den Kopf.
    Schmerzen, überall Schmerzen, die ihn umhüllten wie eine Decke.
    »Mischa, nicht aufstehen. Nicht umschauen. Bleib einfach liegen.«
    Er fühlte etwas Glattes unter seinem Kopf. Er lag auf einem Schuh, einem glänzenden schwarzen Schuh. Und unter seiner Hüfte stach eine Hand hervor. Eine behaarte Hand voller Blut. Jetzt verstand er, was aus dem Fuß ragte. Es war ein Stück Knochen. Er spürte eine Welle der Übelkeit aufsteigen, verlor jedoch wieder das Bewußtsein.
    Kurz bevor er wegsank, sah er ihr Gesicht. Ihr besorgtes Lächeln, ihre Tränen. Vivien, ich habe sie nicht getötet , wollte er sagen. Ich weiß alles wieder. Es war keine Absicht, es war ein Unfall.
    Aber er konnte nicht sprechen.
    In der Ferne ertönte Musik. Verführerische, schmachtende Klänge. Die Musik sang für ihn, für ihn allein, lockte ihn eine Treppe hinauf, die er sofort erkannte, über den kalten Fußboden, durch die dunklen Gänge, zum Flügel. Er stand im Wohnzimmer, wo er immer für seine Mutter gespielt hatte. Die dicken roten Vorhänge wehten herein, und der Wind spielte mit den Quasten, die daran hingen. Sie tippten auf die Tasten, und die Klänge tanzten umeinander herum. Er schob sie weg, öffnete den Deckel und setzte sich. Noten brauchte er nicht. Noten waren eine blasse Widerspiegelung der Musik, die er nun unaufhaltsam in sich aufwallen fühlte wie ein Strom von Leben, der ins Freie drängte. Es war pure Unbesiegbarkeit, die aus seinen Fingern herausfloß und um ihn herumwirbelte in einem Kreis, der immer breiter und höher wurde, die Erde umfing und immer weiter emporstieg, die unhörbaren Töne ins Weltall schleuderte.
    Er brauchte die Augen nicht zu öffnen, um zu wissen, daß sie jetzt bei ihm war. Die Gesichter seiner Mutter, Sennas, Viviens und aller anderen Frauen, die er je geliebt hatte, flossen zu einem Gesicht zusammen, ihrem Gesicht. Sie wurde von den Klängen der majestätischen Teufelssonate zum Leben erweckt, die noch immer aus all seinen Zellen und Poren strömten. Sie war überall: neben ihm, hinter ihm, auf dem Flügel. Seine ewige Liebe. Ihr Gesicht kam
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