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Die Teufelshure

Die Teufelshure

Titel: Die Teufelshure
Autoren: Martina André
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hatte nichts genützt, und John musste einen weiteren Leichnam in ein weißes Leinentuch schlagen, das ihm ebenfalls kostenfrei zur Verfügung stand.
    Danach blieb ihm nur noch Granny Beadle. Die alte Frau lag in der guten Stube stöhnend auf einem Strohsack in dem einzigen großen Bett, das ihr nunmehr allein gehörte.
    »John?« Ihre Stimme klang brüchig. »John? Bist du da?«
    John hatte eine Öllampe entzündet, weil das Licht von der Straße, das in die schmalen Kellerschächte fiel, selbst bei Tage nicht ausreichte, um das winzige Zimmer zu erhellen.
    »Ja, Granny, ich bin hier«, erwiderte er und nahm einen Krug mit Wein und einen Becher, um der alten Frau den peinigenden Durst zu stillen. Sie war völlig abgemagert. Ihr Kopf sah mit einem weißen Gespinst von Haaren wie ein Totenschädel aus.
    Als er den Becher an ihre ausgetrockneten Lippen setzte, hielt sie ihn mit ihren knochigen Fingern am Handgelenk fest.
    »Nein«, sagte sie leise. »Ich will nicht trinken. Setz dich nur ein bisschen zu mir, John.« Der Blick ihrer trüben blauen Augen schmerzte ihn mehr als die Geschwüre, die ihm unter den Armen und in der Leiste brannten. Granny Beadle hob ihre zittrige Hand und legte sie auf sein Haupt. Dann strich sie bedächtig über sein langes, verfilztes Haar bis hinunter zu seinem struppigen Bart, in den die Läuse längst Einzug gehalten hatten.
    »Du bist ein guter Junge, John. Gott der Herr wird dich beschützen.« Ihre Fürsorge gab ihm den Rest. Sie hatte alles verloren, an dem ihr Herz gehangen hatte, und war immer noch in der Lage, ihm Liebe und Anteilnahme zu geben.
    Sein Kopf sank auf ihre hagere Brust, und als sie den Arm federleicht um seine Schultern legte, ließ ein Schluchzen seinen Körper erzittern. Und dann weinte er, wie er noch nie in seinem Leben geweint hatte. Seine Tränen tränkten Granny Beadles fadenscheiniges Nachthemd, und ihre geflüsterten Worte der Zuversicht machten alles nur noch schlimmer. Als er den Kopf hob, lächelte sie matt, und er fühlte sich schuldig, weil er schwach geworden war, und rang um eine Erklärung.
    »Was ist das nur für ein Gott«, stammelte er verzweifelt, »der so etwas zulässt?« Hastig rieb er sich den Rotz von der Nase und deutete auf die verstorbenen Kinder. Dann streckte er die Faust zur Decke und setzte eine kämpferische Miene auf. »O Herr! Ich, John Cameron, fordere einen Beweis Deiner unendlichen Güte! Mach dem Sterben ein Ende und schenke den Menschen das ewige Leben auf Erden und nicht erst im Himmelreich! Tust Du es nicht, bist Du ein grausamer Gott, und ich kann nicht weiterhin an Dich glauben – von nun an bis in alle Ewigkeit, Amen!«
    Während John eine gewisse Erleichterung verspürte, obwohl er nicht annahm, dass sich nun etwas änderte, hatte das Gesicht der alten Frau einen ernsten Ausdruck angenommen.
    »Versündige dich nicht, John Cameron«, flüsterte sie besorgt. »Der Herr empfängt all unsere Gebete, und was wirst du tun, wenn Er deine Worte erhört?«

Teil I
     
    1

Edinburgh 1647 – »Horsemarket«
     
    John Cameron verspürte nicht die geringste Lust, den letzten Atemzug des Henry Stratton mitzuerleben, und doch blieb ihm keine andere Wahl. Abraham Brumble, Johns Vorarbeiter im Hafen von Leith, hatte seinen Untergebenen unerwartet frei gegeben, weil sie auf Befehl der Stadtkommandantur Zeugen einer öffentlichen Hinrichtung im nahen Edinburgh werden sollten. In der Ankündigung hatte es geheißen, dass die Hinrichtung des Delinquenten als Warnung zu verstehen sei – für alle, die eine Revolution gegen das schottische Parlament planten.
    Brumble war alles andere als begeistert. Wegen eines solchen Blödsinns, wie er sich auszudrücken pflegte, blieben seinen Hafenarbeitern nur noch ein paar Stunden zum Entladen eines großen Dreimasters. Denn morgen war Sonntag, der Tag des Herrn, an dem alles stillstand, und das Schiff sollte am frühen Montagmorgen wieder nach Frankreich auslaufen.
    Es regnete in Strömen, als John und drei seiner Gefährten ihre Arbeit niederlegten, um sich endlich zu Fuß auf den Weg nach Edinburgh zu machen. Sie waren spät dran. Die Mittagsglocke hatte längst geläutet, als sie die Festungsmauern von Leith durch das große Südportal passierten und die Hauptstraße nach Edinburgh nahmen. Paddy Hamlock, ein graubärtiger, grobschlächtiger Ire aus Ulster, und Malcolm und Micheal MacGregor, völlig gleich aussehende, sechzehnjährige Zwillinge aus Stirling, begleiteten John in den befestigten
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