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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose
Autoren: Jennifer Donnelly
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erlaubt, der Gewerkschaft beizutreten?« fuhr sie aufgebracht fort. »Du arbeitest doch für ihn, du kennst ihn so gut wie ich. Er ist zäh wie Leder. Er will seinen Profit für sich behalten, nicht teilen.«
    »Was du nicht verstehst, Mädchen, ist, daß man irgendwo anfangen muß«, antwortete Paddy erregt und richtete sich auf seinem Stuhl auf. »Du gehst zu Versammlungen, verbreitest die Ideen, bringst alle Arbeiter von Burton’s dazu, die Gewerkschaft zu unterstützen – die Männer in den Docks, die Mädchen in den Fabriken –, dann hat er keine andere Wahl, als sich zu fügen. Vor dem großen Sieg kommen die kleinen. Wie bei den Mädchen in der Zündholzfabrik von Bryant & May’s, die sich gegen die unmenschlichen Arbeitsbedingungen und gegen die Abzüge fürs Schwatzen und Austreten aufgelehnt haben. Nach nur drei Wochen Arbeitseinstellung haben sie gewonnen. Eine Gruppe hilfloser Mädchen! In der Masse liegt die Kraft, Fiona, denk an meine Worte. Die Gewerkschaften werden die Dockarbeiter und die ganze Arbeiterklasse retten.«
    »Das soll mir recht sein«, antwortete sie. »Aber laß mich damit zufrieden.«
    Paddy schlug mit der Faust auf den Tisch, und seine Frau und Tochter zuckten zusammen. »Das reicht!« polterte er los. »Ich laß in meinem Haus keine Reden gegen meine eigene Klasse zu.« Mit funkelnden Augen nahm er seine Zeitung wieder hoch und glättete die Knitterfalten.
    Fiona kochte vor Wut, wußte aber, daß sie den Mund nicht mehr aufmachen durfte.
    »Wann begreifst du’s endlich?« fragte Kate sie.
    Sie zuckte die Achseln, als wäre nichts geschehen, und begann, das Besteck aufzulegen, aber Kate ließ sich nicht täuschen. Fiona war wütend, aber sie sollte inzwischen wissen, daß sie ihre Ansichten für sich behalten sollte. Paddy sagte immer, er ermutige seine Kinder zu selbständigem Denken, aber wie alle Väter war es ihm lieber, wenn sie so dachten wie er.
    Kate ließ den Blick zwischen ihrem Mann und ihrer Tochter hin- und herschweifen. Gütiger Gott, dachte sie, sie sind sich so ähnlich. Das gleiche rabenschwarze Haar, die gleichen blauen Augen, das gleiche trotzige Kinn. Und beide haben ihre Hirngespinste – das ist das Irische an ihnen. Sie sind Träumer. Er träumt immer vom Sankt-Nimmerleins-Tag, an dem Kapitalisten ihre Untaten bereuen. Und dieses Mädchen macht Pläne für einen eigenen Laden. Sie hat keine Ahnung, wie schwer es sein wird, das in die Tat umzusetzen. Aber sie läßt sich nichts sagen. So war es schon immer mit ihr. Sie wollte schon immer hoch hinaus.
    Kate machte sich Sorgen um ihre älteste Tochter. Fionas Sturheit, ihre Zielstrebigkeit waren so stark, so eindeutig, daß es sie beängstigte. Plötzlich überkam sie ein heftiges Gefühl, sie beschützen zu wollen. Wie viele Mädchen aus den Docks wollten wie sie einen Laden eröffnen? fragte sie sich. Was, wenn sie es schaffte, ihn aufzumachen, und dann scheiterte? Es würde ihr das Herz brechen. Und dann wäre sie ihr ganzes restliches Leben verbittert über etwas, was sie sich nie hätte wünschen dürfen.
    Wie oft schon hatte Kate diese Sorgen ihrem Mann anvertraut, aber Paddy war stolz auf den glühenden Ehrgeiz seiner Tochter und wandte ein, daß Selbstbewußtsein und Schwung etwas Gutes seien bei einem Mädchen. Ob das wohl stimmte? Sie wußte es besser. Selbstbewußtsein und Schwung waren dafür verantwortlich, daß Mädchen ihre Stellen verloren oder von ihren Ehemännern verprügelt wurden. Wozu sollten Selbstbewußtsein und Schwung dienen, wenn die ganze Welt nur darauf wartete, sie einem auszutreiben? Sie seufzte tief auf – das lange, geräuschvolle Seufzen einer Mutter. Die Antwort auf diese Fragen müßte warten. Das Essen war fertig.
    »Fiona, wo ist dein Bruder?« fragte sie.
    »Unten beim Gaswerk Koks suchen, den er Mrs. McCallum verkaufen will, hat er gesagt. Für Kohle zahlt sie nichts.«
    Vor dem Haus war ein Knirschen zu hören. Die Tür ging auf, und ein kleiner Leiterwagen tauchte auf. Charlie war mit seinem Holzkarren im Schlepptau heimgekehrt.
    Der Kopf des kleinen Seamie schnellte hoch. »Der Mörder von Whitechapel«, rief er fröhlich.
    Kate runzelte die Stirn. Ihr gefiel der gräßliche neue Name für ihren Sohn nicht.
    »Jawohl, kleiner Mann«, erwiderte eine schaurige Stimme aus der Diele. »Es ist der Mörder von Whitechapel, der Herr der Nacht, der nach unartigen Kindern Ausschau hält.«
    Die Stimme ging in ein böses Lachen über, und Seamie, vor Angst und Entzücken
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