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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose
Autoren: Jennifer Donnelly
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kreischend, erhob sich auf seine stämmigen Beinchen und suchte nach einem Versteck.
    »Komm her, Schatz!« flüsterte Fiona und lief zu dem Schaukelstuhl vor dem Kamin. Sie setzte sich und breitete die Röcke aus. Seamie kroch darunter, vergaß aber, seine Beine einzuziehen. Immer noch böse lachend, kam Charlie in die Küche gestapft. Als er die kleinen Stiefelchen unter den Röcken seiner Schwester hervorstehen sah, mußte er sich zusammennehmen, um nicht laut loszuprusten und das Spiel zu verderben.
    »Haben Sie irgendwelche unartigen kleinen Jungen gesehen, Missus?« fragte Charlie seine Mutter.
    »Hör auf«, sagte Kate tadelnd. »Erschreck deinen Bruder nicht so.«
    »Ach, dem macht das Spaß«, flüsterte Charlie und bedeutete ihr, still zu sein. »O Siamieeee«, rief er lockend, »komm raus, komm raus!« Er öffnete die Schranktür. »Da ist er nicht.« Er sah unter das Spülbecken. »Da ist er auch nicht.« Dann ging er zu seiner Schwester hinüber. »Hast du einen kleinen Jungen gesehen?«
    »Nur den, der gerade vor mir steht«, antwortete Fiona und glättete ihre Röcke.
    »Wirklich? Dann sind das deine Füße, die hier rausstehen. Ziemlich klein für ein so großes Mädchen, wie du es bist. Laß mich doch mal nachsehen … aha!«
    Charlie packte Seamie an den Fesseln und zog ihn heraus. Seamie kreischte, und Charlie begann, ihn gnadenlos zu kitzeln.
    »Nicht so wild, Charlie«, sagte Kate tadelnd. »Laß ihn erst mal wieder zu Atem kommen.«
    Charlie hielt inne, und Seamie versetzte ihm einen Stoß ans Bein, damit er weitermachte. Als er wirklich keine Luft mehr bekam, hörte Charlie auf und gab ihm einen liebevollen Klaps auf den Kopf. Seamie lag mit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem Boden und sah mit hingebungsvoller Bewunderung zu seinem Bruder hinauf. Charlie war der Mittelpunkt seines Universums, sein Held. Er betete ihn an, folgte ihm auf Schritt und Tritt und bestand sogar darauf, genauso angezogen zu sein wie er. Bis hin zu dem Stück Stoff, das er sich von seiner Mutter um den Hals binden ließ, um Charlies Halsbinde nachzuahmen – ein knallrotes Tuch, das alle flotten jungen Burschen trugen. Die beiden Jungen glichen sich fast aufs Haar und schlugen mit ihrem roten Schopf, den grünen Augen und den Sommersprossen ihrer Mutter nach.
    Charlie hängte seine Jacke auf, nahm dann eine Handvoll Münzen aus seiner Tasche und warf sie in die Teedose. »Ein bißchen mehr als sonst, Ma. Ich hab diese Woche ein paar Überstunden gemacht.«
    »Danke, Schatz, ich kann es gebrauchen. Ich hab versucht, ein bißchen was auf die Seite zu tun, um deinem Vater eine Jacke zu kaufen. Bei Malphlins’s gibt’s ein paar schöne gebrauchte. Seine alte hab ich so oft ausgebessert, daß sie bloß noch aus Flicken besteht.«
    Er setzte sich an den Tisch, nahm eine dicke Scheibe Brot und begann, sie gierig hinunterzuschlingen. Paddy warf einen Blick über seine Zeitung, sah ihm zu und gab ihm einen Klaps auf den Kopf. »Wart auf deine Mutter und deine Schwester. Und nimm die Mütze ab, wenn du ißt.«
    »Fiona, setz bitte Seamie auf seinen Platz«, sagte Kate. »Wo ist Roddy? Schläft er immer noch? Gewöhnlich treibt ihn der Essensgeruch raus. Charlie, ruf ihn runter.«
    Charlie stand vom Tisch auf und ging zum Treppenhaus. »Onkel Roddy! Essen ist fertig!« Keine Antwort. Er lief die Stiege hinauf.
    Fiona wusch Seamies Hände und setzte ihn an den Tisch. Sie band ihm ein Lätzchen um den Hals und gab ihm ein Stück Brot, um ihn ruhig zu halten. Dann ging sie zum Küchenschrank, nahm sechs Teller heraus und trug sie zum Herd. Auf drei Teller gab sie Schnitzel und Kartoffelbrei mit Soße. Kate zog die Kasserolle aus dem Backofen und verteilte den Inhalt sowie den Rest der Kartoffeln und Soße auf den übrigen Tellern.
    »Würstchen im Teigmantel!« krähte Seamie mit Blick auf den knusprigen Teig und zählte hungrig die Wurststücke, die aus dem Überzug spitzten.
    Weder Kate noch Fiona dachten je darüber nach, ob es gerecht war, daß die Männer Schnitzel bekamen, sie selbst aber weitestgehend fleischlose Kost. Männer waren die Ernährer und brauchten Fleisch, um bei Kräften zu bleiben. Frauen und Kinder bekamen am Wochenende ein bißchen Speck oder Würstchen, wenn der Wochenlohn dafür reichte. Die Tatsache, daß Kate an einer Mangel arbeitete und den ganzen Tag nasse Wäsche durchließ oder daß Fiona stundenlang und ohne Pause auf den Beinen stand und Tee verpackte, zählte nicht. Paddys und Charlies
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