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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose
Autoren: Jennifer Donnelly
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ihren Arm packte.
    »Jedenfalls rennst du wie ein Mädchen.« Er zog sie an sich und tat so, als würde er ihr Gesicht inspizieren. »Und ich schätze, daß du hübsch genug bist, um ein Mädchen zu sein …«
    »Du schätzt?«
    »Hm, aber ich könnte mich täuschen. Besser, ich überzeug mich …«
    Fiona spürte seine Finger, die über ihre Wange strichen. Ganz sacht hob er ihr Kinn, küßte ihre Lippen und öffnete sie mit seiner Zunge. Sie schloß die Augen und gab sich dem Kuß hin. Sie wußte, daß sie dies nicht durfte, nicht bevor sie verheiratet waren. Pater Deegan würde sie zur Buße mit unzähligen Ave Marias verdonnern, und wenn ihr Vater davon erführe, würde er ihr bei lebendigem Leib das Fell abziehen. Aber, ach, wie herrlich sich seine Lippen anfühlten, und seine Zunge war wie Samt, und seine von der Nachmittagssonne warme Haut duftete so süß. Bevor sie wußte, was sie tat, stand sie auf den Zehenspitzen, schlang die Arme um seinen Hals und erwiderte seinen Kuß. Nichts fühlte sich so gut an wie ihren Körper an den seinen zu schmiegen und seine starken Armen um sich zu spüren.
    Pfiffe und Gegröle unterbrachen ihre Umarmung. Ein Lastkahn segelte an ihnen vorbei. Seine Mannschaft hatte sie entdeckt.
    Mit glutrotem Gesicht zog Fiona Joe in das Labyrinth aufgeschichteter Warenkisten, wo sie warteten, bis der Lastkahn vorbeigefahren war. Eine Kirchturmuhr schlug die Stunde. Es war spät geworden. Sie wußte, sie sollte heimgehen und ihrer Mutter beim Abendessen helfen. Und Joe mußte auf den Markt. Nach einem letzten Kuß gingen sie zu den Old Stairs zurück. Sie eilte die Treppe hinauf, zog ihre Strümpfe und Schuhe wieder an und verhedderte sich dabei in ihrem Rock.
    Als sie sich zum Gehen anschickte, warf sie einen letzten Blick auf den Fluß zurück. Es würde eine Woche dauern, bevor sie wieder zurückkommen konnte – eine Woche, in der sie im Dunkeln aufstehen, sich mühsam zu Burton’s und wieder nach Hause schleppen mußte, wo immer allerlei Arbeiten auf sie warteten. Aber das machte nichts, nichts machte etwas aus. Eines Tages würde sie alles hinter sich lassen. Weiße Schaumkronen erhoben sich von weiter draußen und kräuselten sich auf der Wasseroberfläche. Wellen tanzten. Bildete sie sich das nur ein, oder hüpfte der Fluß vor Freude für sie, für sie beide?
    Und warum auch nicht? fragte sie sich lächelnd. Sie und Joe hatten einander. Sie hatten zwölf Pfund, zwei Shilling und einen Traum. Was scherte sie Burton’s oder die trostlosen Straßen von Whitechapel? In einem Jahr würde die Welt ihnen gehören. Alles war möglich.
     
    »Paddy? Paddy, wie spät hast du’s?« fragte Kate Finnegan ihren Mann.
    »Hm?« antwortete er, den Kopf in die Zeitung vergraben.
    »Wie spät ist es, Paddy?« fragte sie, ungeduldig in einer gelben Schüssel rührend.
    »Kate, Liebes, du hast mich doch gerade erst gefragt«, antwortete er seufzend und griff in seine Tasche. Er zog eine zerbeulte silberne Uhr heraus. »Es ist genau zwei Uhr.«
    Stirnrunzelnd klopfte Kate den Schneebesen am Rand der Schüssel ab, löste cremefarbene Klümpchen von den Drähten und warf ihn dann ins Spülbecken. Dann nahm sie eine Gabel und stach in eines der Lammkoteletts, die auf dem Herd brutzelten. Ein wenig Saft trat aus dem Kotelett, der sich in Dampf auflöste, als er auf das heiße Metall der Bratpfanne traf. Sie spießte die Koteletts auf, legte sie auf eine Platte und stellte sie neben einen Topf mit Zwiebelsoße ins Wärmefach. Dann nahm sie ein paar Würstchen, schnitt sie auf und gab sie in die Pfanne. Als sie zu braten begannen, setzte sie sich ihrem Mann gegenüber an den Tisch.
    »Paddy«, sagte sie und klopfte mit der Handfläche leicht auf den Tisch. »Paddy.«
    Über die Zeitung hinweg sah er in die großen grünen Augen seiner Frau. »Ja, Kate. Was ist, Kate?«
    »Du solltest sie wirklich holen gehen. Sie können nicht einfach eintrudeln, wann sie wollen, und dich mit dem Essen warten lassen. Und ich steh hier und weiß nicht, wann ich die Würstchen auftragen kann.«
    »Sie kommen jede Minute. Fang doch schon an. Wenn ihr Essen dann kalt ist, sind sie selbst schuld.«
    »Es ist nicht nur wegen dem Essen«, gestand sie. »Ich mag’s nicht, wenn sie draußen rumtrödeln, wo doch die Sache mit diesen Morden noch immer nicht vorbei ist.«
    »Ach, du glaubst doch nicht, daß der Mörder von Whitechapel bei hellem Tageslicht rumläuft? Und einem kräftigen Burschen wie Charlie nachstellt? Gott steh
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