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Die Teerose

Die Teerose

Titel: Die Teerose
Autoren: Jennifer Donnelly
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als sie ihm eröffnete, wer Sid Malone wirklich war. Eines Nachts waren sie, Joe und Roddy zu Cole’s Wharf zurückgegangen. Der Wachmann wollte sie nicht eintreten lassen, aber Roddy zeigte ihm seine Dienstmarke. Sie suchten das ganze Lagerhaus ab – jedes Stockwerk –, fanden aber nur Waren. All die Möbel, das Essen, die Getränke und jeder Hinweis, daß hier jemand gewohnt hatte, waren verschwunden.
    Es gab eine gerichtliche Untersuchung und viele Fragen. Fiona weigerte sich, auch nur einen der Männer preiszugeben, die sie gerettet hatten, und Joe folgte ihrem Beispiel. Sie erinnerten sich nicht mehr genau, sagten sie aus. Es sei dunkel gewesen, und sie hätten beide unter Schock gestanden.
    Aber Fiona kannte die Wahrheit: Ihr Bruder war ein Krimineller. Ein Dieb, ein Schmuggler, ein Erpresser. Ein gutaussehender Gangster mit smaragdgrünen Augen.
    Doch auch die andere Seite dieser Wahrheit vergaß sie nicht – Charlie hatte ihr das Leben gerettet. Und Joe ebenfalls. Sie zweifelte keinen Augenblick, daß sie beide ohne ihn nicht mehr am Leben wären. Und er hatte getan, was ihr trotz ihres zehnjährigen Bemühens nicht gelungen war – William Burton zu vernichten.
    Noch immer erschauerte sie, wenn sie an Burtons letzte Momente dachte und wie er sie beinahe umgebracht hätte. Oder wenn sie sich an die Dinge erinnerte, die er sagte, bevor Tom ihn erschossen hatte. Sie hatte Joe und Roddy von seinem wahnsinnigen Gefasel erzählt. Roddy ließ sein Haus durchsuchen, aber seine Leute fanden nichts Verdächtiges. Das Messer, mit dem er sie angegriffen hatte, war mit ihm verschwunden. Roddy ließ es sich von ihr beschreiben und meinte, es könne durchaus die Verletzungen herbeigeführt haben, die bei den Frauen im Jahr 1888 und bei den beiden Straßendirnen festgestellt worden waren, die man kürzlich gefunden hatte.
    »Er könnte es gewesen sein«, sagte Roddy, »ich jedenfalls würde es nicht ausschließen, angesichts der Dinge, die er getan hat. Aber ohne seine Aussage können wir nicht sicher sein.«
    Nein, Onkel Roddy, dachte sie, als sie jetzt auf den Fluß hinaussah, das können wir nicht.
    Manchmal glaubte sie immer noch, ihn zu sehen … Burton … Jack … den dunklen Mann. In schwarzem Mantel und Zylinder ging er mit auf dem Rücken gefalteten Händen am Flußufer entlang und drehte sich nach ihr um, als würde er sich plötzlich ihres Blicks bewußt, zog den Hut und verschwand dann in den dunklen Wassern der Wapping Entrance oder in den Schatten des Orient Wharf. Roddy behauptete, er sei tot, da niemand sechs Schüsse aus nächster Nähe überleben könne. Auch sie wußte, daß er tot war. Dennoch lebte er weiter. In den Narben, die er auf ihrem Körper hinterlassen hatte. In den Narben auf ihrer Seele.
    In den Wochen nach der polizeilichen Untersuchung ersuchte Roddy um seine Versetzung. Er erklärte seinen Vorgesetzten, daß er genug habe vom East End und mit seiner Familie aus London fortziehen wolle. Er hoffte auf eine Stelle in Oxfordshire oder Kent. Fiona erklärte er, daß sich seine und Charlies Wege sicher kreuzen würden, wenn er bliebe, und daß ihm die Aussicht, Paddys Sohn festnehmen zu müssen, unerträglich vorkäme. Seiner Meinung nach sei der wirkliche Charlie Finnegan tot, 1888 gestorben.
    »Das sind wir doch alle, oder?« erwiderte sie wehmütig. Und in gewissem Sinne stimmte das auch. Nicht einer von ihnen – weder sie noch Roddy, noch Joe oder Charlie – war derselbe, der er vor zehn Jahren gewesen war.
    Wieder kamen ihr die Tränen. Was würde sie Michael erzählen? Und Seamie, der seinen älteren Bruder angebetet hatte? »Sag ihnen nichts«, meinte Joe. »Laß Seamie seine Erinnerungen. Laß ihm wenigstens diese.« Fiona hatte seinen Rat befolgt. Aber nur für den Moment. Nur für heute. Sie würde nicht aufhören, nach Charlie zu suchen, egal, was er gesagt, egal, was er getan hatte. Sie liebte ihn. Und eines Tages würde sie ihn zurückbekommen. Den wirklichen Charlie, nicht Sid Malone. Sie würde die Hoffnung nicht aufgeben. Niemals.
    Während die Brise vom Fluß ihre Tränen trocknete, hörte sie Schritte auf der Treppe hinter sich. Sie drehte sich um und erwartete Stuart, sah aber statt dessen ein rothaariges, vielleicht neunjähriges Mädchen. Das Mädchen lächelte sie scheu an. »Ich sitz manchmal hier und schau mir die Boote an«, sagte es. »Die Luft riecht gut heute, nicht? Wie Tee.«
    Fiona erwiderte ihr Lächeln. »Ja, das stimmt. Kein Wunder. In Oliver’s Wharf
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