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Die Taeuschung

Die Taeuschung

Titel: Die Taeuschung
Autoren: Charlotte Link
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Der Ort hatte keinerlei Ähnlichkeit mit den sonst
üblichen Autobahnraststätten. Eher handelte es sich um einen
Ausflugsplatz, um eine Art große Picknickterrasse mit
steinernen Sitzgruppen, kiesbestreuten Wegen,
schattenspendenden Bäumen. Der Blick war atemberaubend.
Für gewöhnlich überwältigten ihn das Blau des Himmels und
das Blau des Meeres. Heute jedoch würden sich die Wolken
nicht mehr lichten. Grau und diesig hing der Himmel über dem
Meer. Die Stille war schwül und bleiern. Die Luft roch nach
Regen.
Ein trostloser Tag, dachte er, als er das Auto parkte und den
Motor abschaltete.
Unweit von ihm saß ein anderer einsamer Mann in einem
weißen Renault und starrte vor sich hin. Ein älteres Ehepaar
hatte an einem der sechseckigen Tische Platz genommen und
eine Thermosflasche vor sich hingestellt, aus der sie nun beide
abwechselnd tranken. Aus einem Kleinbus quoll eine Familie,
Eltern, dazu offensichtlich die Großeltern und eine
unüberschaubare Schar von Kindern jeder Altersgruppe. Die
Größeren trugen Pizzakartons, die Erwachsenen schleppten
Körbe mit Wein- und Saftflaschen.
Wie idyllisch, dachte er, ein warmer Oktoberabend, und sie
machen ein Picknick an einem wunderbaren Aussichtsort. Zwei
Stunden können sie hier noch sitzen, dann wird es dunkel und
kalt. Sie werden wieder alle in diesem Bus verschwinden und
nach Hause fahren und satt und glücklich in ihre Betten fallen.
Er selber hatte eigentlich nie Kinder gewollt – sowohl sein
Sohn aus erster Ehe als auch die zweijährige Tochter, die er mit
Laura hatte, waren aus Unachtsamkeit entstanden –, aber
manchmal überlegte er, wie es sich anfühlen mußte, Teil einer
großen Familie zu sein. Er sah das keineswegs verklärt: Es
bedeutete, ewig vor dem Badezimmer anstehen zu müssen und
wichtige Dinge nicht zu finden, weil ein anderer sie ungefragt
ausgeliehen hatte, es bedeutete jede Menge Lärm, Unordnung,
Dreck und Chaos. Aber es mochte auch Wärme entstehen, ein
Gefühl der Geborgenheit und Stärke. Es gab wenig Platz für
Einsamkeit und die Angst vor der Sinnlosigkeit.
Zum zweitenmal tippte er eine Nummer in sein Handy. Er
mußte nicht lange warten, sie meldete sich sofort.
Offensichtlich hatte sie um diese Zeit mit seinem Anruf
gerechnet und sich in der Nähe des Telefons aufgehalten.
»Hallo!« Sie klang fröhlich. »Du bist auf dem Pas
d’Ouilliers!«
»Richtig!« Er bemühte sich, ihren heiteren, unbeschwerten
Ton zu übernehmen. »Zu meinen Füßen liegt das Mittelmeer.«
»Glitzernd im Abendsonnenschein?«
»Eher nicht. Es ist sehr wolkig. Ich denke, es wird noch
regnen heute abend.«
»Oh – das kann sich aber schnell ändern.«
»Natürlich. Da mache ich mir keine Sorgen. Sonne und
Wind wären für Christopher und mich jedenfalls am
schönsten.«
Sie war wesentlich feinfühliger als seine Mutter. Sie merkte,
wie angestrengt er war.
»Was ist los? Du klingst merkwürdig.«
»Ich bin müde. Neun Stunden Autofahrt sind keine
Kleinigkeit.«
»Du mußt dich jetzt unbedingt ausruhen. Triffst du
Christopher noch heute abend?«
»Nein. Ich will früh ins Bett.«
»Grüße unser Häuschen!«
»Klar. Es wird sehr leer sein ohne dich.«
»Das wirst du vor lauter Müdigkeit kaum bemerken.« Sie
lachte. Er mochte ihr Lachen. Es war frisch und echt und
schien immer aus ihrem tiefsten Inneren zu kommen. Wie auch
ihr Schmerz, wenn sie Kummer hatte. Bei Laura waren
Gefühle niemals aufgesetzt oder halbherzig. Sie war der
aufrichtigste Mensch, den er kannte.
»Kann sein. Ich werde schlafen wie ein Bär.« Er schaute auf
das schiefergraue Wasser. Die Verzweiflung kroch bereits
wieder langsam und bedrohlich in ihm hoch.
Ich muß, dachte er, von diesem Ort weg. Von den
Erinnerungen. Und von dieser glücklichen Großfamilie mit den
Pizzakartons und dem Gelächter und der Unbeschwertheit.
»Ich werde noch irgendwo etwas essen«, sagte er.
»Irgendwo? Du gehst doch sicher zu Nadine und Henri?«
»Das ist eine gute Idee. Eine leckere Pizza von Henri wäre
jetzt genau das Richtige.«
»Rufst du später noch mal an?«
»Wenn ich im Haus bin«, sagte er. »Ich melde mich, bevor
ich ins Bett gehe. In Ordnung?«
»In Ordnung. Ich freue mich darauf.« Durch das Telefon
hindurch und über eintausend Kilometer hinweg konnte er ihr
Lächeln spüren.
»Ich liebe dich«, sagte sie leise.
»Ich liebe dich auch«, erwiderte er.
Er beendete das Gespräch, legte das Handy neben sich auf
den Beifahrersitz. Die
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