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Die Taeuschung

Die Taeuschung

Titel: Die Taeuschung
Autoren: Charlotte Link
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eigentümliche Art schärfte. Es
war, als könne sie irgendeine in der Dunkelheit wartende
Gefahr wittern, riechen, fühlen. Als sei sie ein Tier, das das
Herannahen eines anderen Tiers spürt, das ihm gefährlich
werden kann.
Jetzt werde nicht hysterisch, rief sie sich zur Ordnung.
Es war nichts zu hören.
Und doch wußte sie, daß jemand anwesend war, jemand
außer ihr und ihrem Kind, und dieser Jemand war ihr
schlimmster Feind. Die Einsamkeit des Hauses kam ihr in den
Sinn, sie war sich bewußt, wie allein sie beide hier waren, daß
niemand sie hören könnte, falls sie schrien, daß niemand es
bemerken würde, wenn etwas Ungewöhnliches hier vor sich
ginge.
Es kann keiner in das Haus hinein, sagte sie sich, überall
sind die Läden verschlossen. Die Stahlhaken zu zersägen
würde einen Höllenlärm veranstalten. Die Türschlösser sind
stabil. Auch sie zu öffnen kann nicht lautlos funktionieren.
Vielleicht ist draußen jemand.
Es gab nur einen, von dem sie sich vorstellen konnte, daß er
nachts um ihr Haus herumschlich, und bei diesem Gedanken
wurde ihr fast übel.
Das würde er nicht tun. Er ist lästig, aber nicht krank.
Doch in diesem Moment wurde ihr klar, daß er genau das war. Krank. Daß sein Kranksein es gewesen war, was sie von
ihm fortgetrieben hatte. Daß sein Kranksein sie an ihm gestört
hatte. Daß es jene sich langsam verstärkende, instinktive
Abneigung ausgelöst hatte, die sie sich die ganze Zeit über
nicht wirklich hatte erklären können. Er war so nett. Er war
aufmerksam. Es gab nichts an ihm auszusetzen. Sie war
bescheuert, ihn nicht zu wollen.
Es war Überlebensinstinkt gewesen, ihn nicht zu wollen.
Okay, sagte sie sich und versuchte tief durchzuatmen, wie es
ihr ein Atemtherapeut in der ersten furchtbaren Zeit nach
Jacques’ Tod beigebracht hatte, okay, vielleicht ist er da
draußen. Aber er kann jedenfalls nicht hier herein. Ich kann
mich ruhig ins Bett legen und schlafen. Sollte sich morgen
irgendwie herausstellen, daß er da war, jage ich ihm die Polizei
auf den Hals. Ich erwirke eine einstweilige Verfügung, daß er
mein Grundstück nicht betreten darf. Ich fahre nach Paris. Falls ich Weihnachten hier verbringe, kann schon alles ganz
anders aussehen.
Entschlossen kehrte sie in ihr Zimmer zurück.
Doch als sie wieder im Bett lag, wollte die Nervosität, die
ihren Körper vibrieren ließ, nicht aufhören. Noch immer waren
alle Härchen auf ihrer Haut hoch aufgerichtet. Sie fror jetzt,
obwohl es sicher an die zwanzig Grad warm war im Zimmer.
Sie zog die Decke bis zum Kinn, und eine Hitzewallung
machte ihr das Atmen schwer. Sie stand dicht vor einer
Panikattacke, die sich bei ihr immer mit einem fliegenden
Wechsel zwischen Hitze und Kälte ankündigte. In der Zeit, in
der Jacques starb und auch danach hatte sie oft solche Anfälle
erleiden müssen. Seit ungefähr einem Jahr war sie frei davon.
Zum erstenmal wurde sie nun wieder von den immer noch
vertrauten Symptomen heimgesucht.
Sie fuhr mit den Atemübungen fort, die sie vorher draußen
im Gang begonnen hatte, und oberflächlich wurde sie ruhiger,
aber in ihrem Inneren glühte ein rotes Warnlämpchen und ließ
sie in Hochspannung verharren. Sie wurde das Gefühl nicht
los, daß sie keineswegs Opfer einer Hysterie war, sondern daß
ihr Unterbewußtsein auf eine greifbare Gefahr reagierte und ihr
ununterbrochen zurief, sie solle aufpassen. Zugleich weigerte
sich ihr Verstand, derartige Gedanken zuzulassen. Jacques
hatte immer gesagt, es sei Unsinn, an Dinge wie Vorahnungen,
Stimme des Bauchs oder dergleichen zu glauben.
»Ich glaube nur, was ich sehe«, hatte er oft gesagt, »und ich
nehme nur an, was sich als Tatsache beweisen läßt.«
Und ich bin im Moment einfach dabei, durchzudrehen, sagte
sie sich.
Im gleichen Augenblick hörte sie ein Geräusch, und es war
vollkommen klar, daß sie es sich nicht eingebildet hatte. Es war
ein Geräusch, das sie gut kannte: Es war das leise Klirren, das
die Glastür, die Wohn- und Schlafbereich in diesem Haus
voneinander trennte, verursachte, wenn sie geöffnet wurde. Sie
vernahm es an jedem Tag, den sie hier war, an die hundert Mal,
entweder weil sie selbst hindurchging, oder weil Bernadette
hin- und herlief.
Es bedeutete, daß jemand hier war und daß er keineswegs
um das Haus herumschlich.
Er war im Haus.
Sie war mit einem Satz aus dem Bett.
Verdammt, Jacques, dachte sie, ohne die Ungewöhnlichkeit
dieses Moments zu beachten, denn es
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