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Die Taeuschung

Die Taeuschung

Titel: Die Taeuschung
Autoren: Charlotte Link
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Kopf? Sie neigte dazu,
Grübeln, Schmerz und Hoffnungslosigkeit mit in den Schlaf zu
nehmen, und manchmal wurde sie davon wach, daß ihr die
Tränen über die Wangen liefen.
    Aber diesmal nicht. Ihre Augen waren trocken.
Sie war gegen elf Uhr ins Bett gegangen und sehr schwer
eingeschlafen. Zu vieles war ihr im Kopf herumgegangen, sie
hatte sich bedrückt gefühlt und war in die alte Angst vor der
Zukunft verfallen, die sie nur für kurze Zeit überwunden
geglaubt hatte. Das Gefühl, eingeengt und bedroht zu werden,
hatte sich in ihr ausgebreitet. Für gewöhnlich hatte ihr das
Haus am Meer stets Freiheit vermittelt, hatte sie leichter atmen
lassen. Noch nie, wenn sie hier gewesen war, hatte sie sich
nach der eleganten, aber immer etwas düsteren Pariser
Stadtwohnung zurückgesehnt. Zum erstenmal freute sie sich
jetzt, daß der Sommer vorüber war.
Es war Freitag, der 28. September. Am nächsten Tag würden
sie und Bernadette aufbrechen und heim nach Paris fahren.
Der Gedanke an ihre kleine Tochter ließ sie im Bett
hochschrecken. Vielleicht hatte Bernadette gerufen oder im
Schlaf laut geredet. Bernadette träumte intensiv, wurde häufig
wach und schrie nach ihrer Mutter. Oft fragte sie sich, ob das
normal war bei einem vierjährigen Kind, oder ob sie die Kleine
zu sehr belastete mit ihren dauernden Depressionen.
Natürlich plagten sie Schuldgefühle deswegen, aber sie
vermochte es nicht wirklich zu ändern. Es blieb bei
gelegentlichen Anläufen, sich selber aus dem Sumpf des
Grübelns und der Verlorenheit zu ziehen, doch nie konnte sie
einen anhaltenden Erfolg für sich verbuchen.
Außer im letzten Jahr ... im letzten Sommer ...
Sie sah auf den elektronischen Wecker, der neben ihrem Bett
stand und dessen Zahlen intensiv grün in der Dunkelheit
leuchteten. Es war kurz vor Mitternacht, sie konnte nur ganz
kurz geschlafen haben. Wieder lauschte sie. Es war nichts zu
hören. Wenn Bernadette nach ihr rief, dann tat sie das
normalerweise ununterbrochen. Trotzdem würde sie aufstehen
und nach ihrem Kind sehen.
Sie schwang die Beine auf den steinernen Boden und erhob
sich.
Wie immer seit Jacques’ Tod trug sie nachts nur eine
ausgeleierte Baumwollunterhose und ein verwaschenes T-Shirt.
Früher hatte sie, gerade in der Wärme der provenzalischen
Nächte, gern tief ausgeschnittene, hauchzarte Seidennegliges
angelegt, elfenbeinfarbene zumeist, weil ihre stets gebräunte
Haut und die pechschwarzen Haare damit schön zur Geltung
kamen. Sie hatte damit aufgehört, als er ins Krankenhaus kam
und sein Sterben in Etappen begann. Sie hatten ihn als geheilt
entlassen, er war zu ihr zurückgekehrt, sie hatten Bernadette
gezeugt, und dann war der Rückfall eingetreten, innerhalb
kürzester Zeit, und diesmal hatte er das Krankenhaus nicht
mehr verlassen. Er war im Mai gestorben. Im Juni war
Bernadette zur Welt gekommen.
Es war warm im Zimmer. Beide Fensterflügel standen weit
offen, nur die hölzernen Läden hatte sie geschlossen. Durch die
Ritzen sah sie das hellere Schwarz der sternklaren Nacht, roch
die Dekadenz, die der glühend heiße Sommer dem Land
vermacht hatte.
Der September war atemberaubend schön gewesen, und
ohnehin liebte sie den Herbst hier besonders. Manchmal fragte
sie sich, weshalb sie so beharrlich jedes Jahr Anfang Oktober
nach Paris abreiste, obwohl es keinerlei Verpflichtungen dort
für sie gab. Vielleicht brauchte sie das Korsett eines
strukturierten Jahresablaufs, um sich nicht im Gefühl der
Realitätslosigkeit zu verlieren. Im Oktober spätestens kehrten
alle in die Städte zurück. Vielleicht wollte sie zugehörig sein,
auch wenn sie sich in ihren schwarzen Stunden oft bitter für
diesen vorgegaukelten Sinn in ihrem Leben anklagte.
Sie trat auf den Gang hinaus, verzichtete jedoch darauf, das
Licht anzuschalten. Falls Bernadette schlief, sollte sie nicht
geweckt werden. Die Tür zum Kinderzimmer war nur
angelehnt, vorsichtig lauschte sie in den Raum hinein. Das
Kind atmete tief und gleichmäßig.
Sie hat mich jedenfalls nicht geweckt, dachte sie.
Unschlüssig stand sie auf dem Flur. Sie begriff nicht, was sie
unterbewußt so beunruhigte. Sie wachte so oft nachts auf, sie
konnte eher jene Nächte als Besonderheit werten, in denen sie
durchschlief. Meist wußte sie nicht, was sie hatte aufschrecken
lassen. Weshalb war sie in dieser Nacht nur so nervös?
Tief in ihr lauerte Angst. Eine Angst, die ihr Gänsehaut
verursachte und ihre Sinne auf
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