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Die Taeuschung

Die Taeuschung

Titel: Die Taeuschung
Autoren: Charlotte Link
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gespenstisch bleich war
und in deren Augen noch immer die Schrecken der
vergangenen Nacht standen.
»Danke«, hatte sie gesagt, »danke. Ich verdanke Ihnen mein
Leben.«
Cathérine war wie überwältigt. Solch großen Dank hatte
noch nie jemand ihr geschuldet. Sie fragte sich, was Henri
sagen würde, wenn er alles erfuhr. Denn auch Nadine wäre tot,
wenn sie nicht eingegriffen hätte.
Sie wußte später selbst nicht recht zu sagen, weshalb sie
Nadines Auto gefolgt war. Es mußte an der verrückten Art
gelegen haben, in der der Wagen um die Kurve geschleudert
war. Es hatte eine Erinnerung wachgerufen, die viele Jahre
zurücklag, irgendwo in der Zeit ihrer frühen Jugend, in der Zeit
vor Nadine. Henri hatte sie oft im Auto mitgenommen, Henri,
den seine Freunde den wildesten Fahrer der Côte nannten. Sie
vereinbarten irgendein Ziel, Cassis oder Bandol, und fast
jedesmal war sie auf seinen Trick hereingefallen, scheinbar an
der entscheidenden Abzweigung vorbeizufahren.
»Halt, hier müssen wir rechts!« hatte sie gerufen, und er
hatte gesagt: »Oh – das stimmt!« Und dann hatte er in voller
Fahrt das Steuer herumgerissen, und sie waren um die Kurve
gerast. Er hatte gelacht, und sie hatte geschrien. Manchmal
hatte sie in sein Gelächter eingestimmt. Manchmal hatten sie
auch heftig gestritten. Sie hatte erklärt, sie werde nie mehr in
sein Auto steigen, aber sie hatte es natürlich doch wieder getan,
und er hatte weiterhin seine Kunststücke vollführt.
Irgendwie war sie sicher gewesen, daß er in Nadines Auto
saß, vielleicht auch deshalb, weil sie in ihrer Verzweiflung so
heftig nach ihm verlangte, daß sie wollte, er möge es sein. Sie
war ins Quartier Colette gefahren, bis hoch zum Haus der
Deutschen, und dort hatte sie den Wagen auch schon innerhalb
des Grundstücks stehen sehen. Sie selbst war draußen
geblieben, ratlos, was sie als nächstes tun sollte. Ratlos auch,
was Henri hier tat. Um diese Zeit. Mit seinem einstigen
Nebenbuhler konnte er nicht mehr sprechen, der war tot. Gab
es irgendeinen Gesprächsbedarf mit dessen Frau?
Und während sie noch wartete und sich fragte, wann er wohl
herauskommen würde, tauchte plötzlich Nadine auf, kam den
Abhang vom Haus heruntergerannt, gefolgt von einem Mann,
der offenbar ein verletztes Bein hatte. Ohne die Situation
wirklich zu begreifen, hatte sie sofort erkannt, daß Nadine in
höchster Gefahr schwebte. Das Flutlicht im Garten präsentierte
ihr eine Art hell erleuchteter Bühne, auf der sie jeden Ablauf
genau verfolgen konnte. Nadine erreichte das Auto, sprang
hinein, startete es jedoch nicht. Der Mann riß eine der hinteren
Türen auf, beugte sich hinein, tauchte wieder auf, öffnete die
Fahrertür und zerrte Nadine heraus.
Und dann schlug er sie zusammen, fast systematisch und mit
äußerster Brutalität. Wenn sie am Boden lag, zog er sie in die
Höhe und schmetterte ihr seine Faust ins Gesicht. Einmal,
zweimal, dreimal, viermal. Von Nadine kam nicht die geringste
Gegenwehr mehr, und sie zeigte auch sonst keine Regung.
Cathérine hatte den Eindruck, daß sie bewußtlos war.
Nadine war immer der Mensch gewesen, den sie am meisten
auf der Welt haßte. Es gab fast nichts Schlechtes, Böses, das
sie ihr nicht von Herzen gewünscht hätte. Und jetzt, da alles
vorüber war und sie hier in ihrer Wohnung saß und
teilnahmslos dem Geplapper des jungen Paares zuhörte, fragte
sie sich, ob in der Nacht wohl eine Versuchung in ihr gewesen
war, die Dinge ihren Lauf nehmen zu lassen. Wegzufahren und
sich um nichts zu kümmern. Mochte er sie totschlagen. Mochte
sie dort in der kalten, regnerischen Nacht sterben. Wen ging es
etwas an?
Sie vermochte sich diese Frage kaum zu beantworten. Sie
hatte eine Weile gebraucht, ehe sie ihren Wagen gewendet
hatte und den Berg hinunter zur Hauptstraße gefahren war.
Dort hatte sie immer noch reglos gesessen und in die Nacht
gestarrt. Kostbare Minuten, wie sie jetzt wußte, die das Leben
der deutschen Frau hätten kosten können. Aber sie hätte bis
jetzt nicht sagen können, was mit ihr los gewesen war. War es
der Schock dieses Abends, der sie lähmte, das Entdecktwerden
durch Stephane, die Demütigung, die er ihr mit seinen
Beschimpfungen zufügte? Oder hatte sie Zeit gebraucht,
überhaupt zu begreifen, was sie da gesehen hatte?
Oder hatte sie Nadine einfach nicht helfen wollen?
    Bei der Polizei hatte man sie gefragt, ob sie sofort ihren
Notruf getätigt habe.
»Ich weiß nicht
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