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Die Süße Des Lebens

Die Süße Des Lebens

Titel: Die Süße Des Lebens
Autoren: Paulus Hochgatterer
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Brief, den sie ihm da hinhalte, habe er noch nie gesehen, habe er gesagt, und er könne sich nicht vorstellen, dass seine Frau ihn geschrieben habe, obwohl Norbert Schmidinger definitiv ein hirnkranker Mensch sei. Was er denn mit ›hirnkrank‹ meine, habe sie den Mann gefragt und er habe gesagt: ›Er steht mit seinem Feldstecher auf dem Balkon und schaut in jedes Fenster, das er in den Blick kriegt, und wenn ihn das ausreichend geil gemacht hat, holt er sein Ding raus und wichst sich einen ab. Das meine ich mit ›hirnkrank‹.‹ Das habe der Mann gesagt und dann habe er sich entschuldigt dafür, dass er sich so drastisch ausdrücke, wo sie doch eine Frau sei.
    Eleonore Bitterle hob ihren Kopf. »Glaubst du, er tut das wirklich?«, fragte sie, »ich meine, so öffentlich.« »Keine Ahnung, was das Schwein alles tut«, antwortete Sabine Wieck. Lipp versuchte sein Grinsen zu verbergen, indem er seine Tasse vors Gesicht hob. Alle schauten ihn an. »Was ist?«, fragte Wieck.
    »Nichts.«
    »Du lachst?!«
    »Ich habe mir nur diesen Härtetest vorgestellt: bei minus fünfzehn Grad auf dem Balkon … Entschuldigung, es ist so primitiv.«
    »Ja«, sagte Sabine Wieck, »es ist primitiv!«
    Mit der Primitivität des erigierten männlichen Gliedes wird sie sich noch auseinandersetzen müssen, wenn sie in diesem Job bleiben will, dachte Kovacs, und er dachte, dass ihm ein Mann, der öffentlich vom Balkon wichste, allemal lieber war als einer, der seinen Kindern die Beine brach. Eleonore Bitterle zeichnete einen Penis auf ein Blatt Papier und strich ihn dann kreuzweise durch. Sabine Wieck sah es und wurde sichtlich ruhiger.
    Durch den Vorgarten des anderen Nachbarhauses sei ihnen, kaum dass sich die Tür geöffnet habe, ein kleiner Hund entgegengestürzt, fuhr sie fort zu erzählen, heftig kläffend und unschwer als Dackelmischling zu identifizieren. In der Tür sei eine vielleicht sechzigjährige Frau erschienen, in einem fürchterlich geblümten Hausmantel, Hannelore Iffenschmid, eine ehemalige Mittelschullehrerin. »Du hast dieses Gesicht gesehen und darunter diesen Hausmantel und sofort gewusst, dass sie alles abstreiten wird«, sagte Lipp.
    Kovacs erinnerte sich, wie durcheinander die Frau gewesen war, wie schrill ihre Stimme geklungen hatte und wie sie gesagt hatte, sie rufe aus einer Telefonzelle an, um nicht identifiziert werden zu können. Er dachte daran, dass die spezifische Mischung aus Einfalt und Ängstlichkeit dieses Land charakterisiere und dass es eine Mischung war, die bestimmte Bevölkerungsgruppen besonders auszeichnete, Lehrer zum Beispiel, Polizeichefs oder Spitzenpolitiker.
    Die Frau habe sie kaum in ihr Vorzimmer gelassen, erzählte Sabine Wieck, und sie habe tatsächlich alles abgestritten, umfassend und konsequent: kein Anruf, kein Brief, keine Mädchenbeine, die gegen eine Eisenstange geschmettert werden. »Am liebsten hätte sie auch den Hund weggeleugnet«, sagte Florian Lipp, das sei aber nicht gegangen, daher habe sie gesagt, Dackelmischlinge gebe es wie Sand am Meer, auch in dieser Stadt, und er habe sich in diesem Moment nicht zurückhalten können und geantwortet: Vielleicht nicht mehr lange. Sie habe offenbar einen Mordsschreck bekommen und er habe sie gefragt, ob sie denn keine Zeitung lese. Der Hund habe übrigens Augustus geheißen.
    Sie fürchtet, dass er sich auf den Balkon stellt und durch das Fernglas zu ihr herüberschaut, dachte Kovacs, und sie fürchtet, dass er sein Ding auspackt, das sie wahrscheinlich nicht einmal zu benennen wagt, aber am meisten fürchtet sie, dass er ihren Hund nimmt und irgendwo dagegenhaut.
    Bitterle fragte, ob sich die Frau über die Person von Norbert Schmidinger geäußert habe, und Sabine Wieck erwiderte, nichts habe sie gesagt, außer, dass sie sich in Erziehungsangelegenheiten anderer Menschen prinzipiell nicht einmische, sondern sich um wichtigere Dinge kümmern müsse, um den Garten und den Hund und um das Haus. Der Hund sei ihr übrigens ständig gegen die Unterschenkel gehüpft – ein absolut kontaktgestörtes Vieh.
    Über Barbara Schmidinger wolle sie eigentlich gar nichts mehr erzählen, so frustrierend habe sie es empfunden, wie diese Frau mit stierem Blick dagesessen sei und stereotyp die Version ihres Mannes wiedergegeben habe: ein dunkelblauer Kombi, Stoßstange gegen kindliche Schienbeine, Fahrerflucht und in der Aufregung schaut keiner aufs Kennzeichen. Das wirklich Gespenstische sei aber gewesen, erzählte sie, »wie dieser unsägliche
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