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Die Suende der Engel

Die Suende der Engel

Titel: Die Suende der Engel
Autoren: Charlotte Link
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Sie konnte nur dafür leben.« Leiser fuhr er fort: »Und sterben. Ihr Körper hielt die ständige Anspannung nicht aus. Schließlich hat er sich gerächt.«

    Was Liebe, Fürsorge, Zuwendung anging, mußte Tina nichts entbehren. Ihr Vater überschüttete sie förmlich damit. Sie waren einander alles, und manchmal ertappte sich Tina bei dem Gedanken, daß sie sich die Anwesenheit eines dritten Menschen in dieser verschworenen Zweisamkeit gar nicht vorstellen konnte, ja sie kaum hätte ertragen können. Die Liebe des Vaters teilen? Undenkbar. Sie mochte es im Grunde schon nicht, daß eine gerahmte Photographie ihrer Mutter noch immer auf Michaels Nachttisch stand; allerdings hätte sie nicht gewagt, ihr Mißfallen zu äußern. Sie tröstete sich damit, daß keine andere Frau in sein Leben eindringen konnte, solange er sich von Marietta nicht verabschiedet hatte, und das wäre zweifellos die wahre Katastrophe gewesen. Tina zog das Bild einer Frau neben seinem Bett entschieden einer Frau aus Fleisch und Blut in seinem Bett vor.
    Aber seit einiger Zeit hatte sich ihr Verhältnis getrübt. Tina kam das an diesem Freitagmorgen erneut zu Bewußtsein, als sie ihrem Vater am Frühstückstisch gegenübersaß und seine steile Unmutsfalte auf der Stirn betrachtete. Er hatte schlecht geschlafen, das war ihm anzusehen, und es hing mit seiner Tochter zusammen. Genaugenommen mit ihrer späten Heimkehr am Abend zuvor und mit der Tatsache, daß sie wieder einmal mit »diesem Mario« herumgezogen war.
    »Du bist heute ziemlich schweigsam, Vater«, sagte Tina.
    Michael nahm seinen Löffel und rührte etwas zu heftig in seiner Kaffeetasse herum. »Es war fast zwölf gestern, als du heimkamst«, erwiderte er.
    Tina seufzte leise. »Wir haben Blumen gepflückt. Flieder. Hast du ihn im Wohnzimmer gesehen?«
    »Nein.«
    »Vater, Mitternacht ist nicht so spät!«

    »Zu spät für ein junges Mädchen, das in drei Tagen seine mündliche Abiturprüfung hat!«
    »Da mußt du dir doch keine Sorgen machen!«
    Das stimmte. Ihre Noten waren immer hervorragend gewesen.
    »Mir ist dieser Mario einfach suspekt, das ist es«, sagte Michael ehrlich, »du bist ohnehin zu jung für einen Freund!«
    »Ich bin achtzehn. Und meine Freundinnen...« Tina stockte, entschied im letzten Moment, ihrem Vater gegenüber nicht preiszugeben, mit welch atemberaubenden Erlebnissen ihre Freundinnen prahlten. Selbst wenn die Hälfte davon erfunden war, blieb genug, um Michael tief zu schockieren und um ihr, Tina, das Gefühl zu geben, ein Gänschen zu sein, das dringend ein paar äußerst wichtige Erfahrungen schnellstens nachholen mußte.
    Michael hatte den begonnenen Satz nicht registriert. Er betrachtete seine Tochter mit einem Gefühl echten Schmerzes, und für Sekunden begriff Tina, die seinem Blick standhielt, voll Mitleid, was in ihm vorging. Aber der Egoismus der Jugend brach sich umgehend wieder Bahn. Von ihrem Vater erwartete sie, daß er, reif und vernünftig, etwas tolerierte, was sie selber im umgekehrten Fall bei ihm nie abzeptiert hätte: das Ausbrechen aus ihrer beider jahrealten, zärtlichen Kameradschaft, die mit fliegenden Fahnen vollzogene Hinwendung zu einem neuen Objekt der Liebe.
    Sie hatte Mario Anfang Februar kennengelernt, an einem frostig-kalten Abend, an dem eine ihrer Freundinnen sie zu der Geburtstagsparty ihres älteren Bruders eingeladen hatte. Es waren nur Studenten auf dem Fest gewesen, und Tina hatte sich sehr verloren gefühlt. Sie stand mitten im Gedränge, hielt sich an einem Glas mit Cola fest und überlegte, wie sie unauffällig verschwinden
könnte, als ein junger Mann sie ansprach. Er hatte dunkle Haare und sehr dunkle Augen und war dabei auffallend blaß im Gesicht. Wie sich später herausstellte, war er vom Gastgeber, der seine Gäste offenbar aufmerksam beobachtete, leise gebeten worden, sich um die schüchterne Christina Weiss zu kümmern. Sie kamen schnell ins Gespräch, fanden bald heraus, daß sie sich beide nicht besonders gut auf dem Fest amüsierten, und beschlossen, irgendwo zusammen essen zu gehen. Als Tina schließlich nach Hause kam, war es ein Uhr. Ihr Vater stand in der Tür und war außer sich vor Zorn.
    »Wir hatten halb zwölf vereinbart!« rief er, packte sie am Arm und zerrte sie herein. »Wo warst du?«
    »Ich bin von einem sehr netten jungen Mann zum Essen eingeladen worden«, antwortete Tina und rieb sich ihr schmerzendes Handgelenk, »und dabei haben wir die Zeit vergessen.«
    »Du wirst ihn nie
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