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Die Suende der Engel

Die Suende der Engel

Titel: Die Suende der Engel
Autoren: Charlotte Link
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wiedersehen!«
    »Ich bin achtzehn, Vater«, sagte Tina und sah Michael trotzig in die Augen.
    Am folgenden Abend unterzog Michael sie einem Kreuzverhör. »Wie alt ist er? Was tut er? Wie heißt er? Was machen seine Eltern?«
    Tina beantwortete alle Fragen in der Hoffnung, auf diese Weise einen länger andauernden Streit mit ihrem Vater zu vermeiden. »Er heißt Mario Beerbaum. Er ist vierundzwanzig und studiert Jura.«
    »Ach«, sagte Michael, der Staatsanwalt war, überrascht.
    »Er ist vor sechs Jahren mit seinen Eltern von München nach Hamburg gezogen. Sie haben hier eine Steuerberatungskanzlei aufgebaut und sind recht wohlhabend.«
    »Hm. Hat er Geschwister?«
    »Nein.«

    Nichts von alldem, das mußte Michael zugeben, klang in irgendeiner Weise argwohnerweckend. Trotzdem paßte ihm die Geschichte einfach nicht. Er weigerte sich, Mario kennenzulernen, und er litt Qualen, wenn Tina mit ihm herumzog.
    »Gestern abend, während du fort warst, hat übrigens deine Tante Paula angerufen«, berichtete er nun. »Sie wollte wissen, wie es mit deinem Abitur steht.«
    »Gut, wie soll es sonst stehen?« sagte Tina mißmutig. Sie mochte Tante Paula nicht besonders. Es war Michaels ältere Schwester, eine humorlose, strenge Frau, die nie geheiratet hatte. Sie lebte in Berlin und verteidigte hartnäckig die Behauptung, dort vor vierzig Jahren einen Verehrer gehabt zu haben, der unglücklicherweise an einer Lungenentzündung gestorben war, ehe er sie hatte ehelichen können. Tina bezweifelte, daß das stimmte. Ihrer Ansicht nach wollte sich Paula damit nur vor dem Makel der Altjüngferlichkeit schützen, der ihr aufgrund der knochigen Gestalt, der schmalen Lippen und der völligen Abgekehrtheit von allen irdischen Freuden ohnehin anhaftete. Bruder und Nichte behandelte sie gleichermaßen von oben herab und nörglerisch, wobei Michael jedoch begriff, daß sie trotzdem an ihnen beiden aus tiefster Seele hing. Er sah die Tragik ihres einsamen, unfrohen Lebens, während Tina sich weigerte, Verständnis für eine Frau aufzubringen, die ständig an ihr herumerzog und sie ununterbrochen kritisierte.
    »Paula möchte dich nach dem Abitur zu sich nach Berlin einladen«, sagte Michael, »sie will dir Stadt und Umgebung zeigen.«
    »Gott, ich kenne Berlin«, sagte Tina, »wir waren hundertmal dort!«
    »Aber immer nur kurz. Und von der Umgebung kennst du gar nichts, da durfte man ja früher nie hin.«

    »Vater, nein! Ich will nicht hinter diesem staubtrockenen, wandelnden Geschichtsbuch hertrotten und mir dabei auch noch dauernd sagen lassen, ich solle meine Haare anständig kämmen und nicht so enge Jeans tragen!«
    »Sie meint es doch gut. Sie will dir eine Freude machen, und...«
    »Es geht sowieso nicht«, unterbrach Tina hastig. Sie sah ihren Vater nicht an. »Nach dem Abi werde ich mit Mario für einige Zeit verreisen.«
    Schweigen. Dann kam von Michael ein leises: »Was?«
    »Es muß sein. Ich werde es tun.«
    »Warum muβ es sein?«
    »Das verstehst du nicht«, sagte Tina kurz. Ihr Vater war der letzte Mensch, mit dem sie hätte besprechen mögen, daß sie mit Mario ein großes Problem hatte.
     
    Das Haus war alt, vor über hundert Jahren gebaut, von außen ein behäbiges, steinernes Gebäude, innen verwinkelt, verwohnt, anheimelnd. Es stand inmitten weiter Wiesen und Weiden. Ein breiter, gepflasterter Hof lag vor dem Portal, eine Allee windgezauster Weidenbäume säumte den Weg bis hin zur Landstraße, die sich als graues Band durch die Rapsfelder schlängelte und selten einmal von einem Auto befahren wurde. Hier oben, im äußersten Norden Deutschlands, kaum zwei Kilometer von der dänischen Grenze entfernt, verliefen die Tage und Nächte ruhig. Ein paar vereinzelte Gehöfte aus roten Klinkersteinen, gescheckte Kühe auf saftig grünen Wiesen, kleine Ortschaften, in denen jeder jeden kannte. Touristen kamen eher auf der Durchfahrt hierher, wollten entweder weiter nach Skandinavien oder hinüber zu den nordfriesischen Inseln. Die verträumten kleinen Buchten entlang der Ostsee waren noch nicht wirklich entdeckt worden.

    Das alte Haus war früher Mittelpunkt eines großen Gutes gewesen, aber Ställe und Scheunen hatte man inzwischen abgerissen. Die Familie, die hier residiert hatte, war zerstreut in alle Winde. Irgendwann hatte es sich für die junge Generation nicht mehr gelohnt, das feudale Herrenhaus weiterhin zu erhalten und unter ungeheurem Kostenaufwand praktisch das ganze Jahr über leerstehen zu lassen. Dann und wann
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