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Die Suende der Engel

Die Suende der Engel

Titel: Die Suende der Engel
Autoren: Charlotte Link
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sich für den weiblichen Teil der Menschheit zu interessieren begann, und trotz all seiner Sorgen verspürte Phillip Erleichterung. Er verspürte immer Erleichterung, wenn er in seiner Familie auf Anzeichen von Normalität stieß.
    »Wie heißt sie?« fragte er.
    »Tina. Ich... ich kenne sie schon eine Weile.«
    Phillip hob die Arme. »Du mußt mir keine Erklärungen abgeben. Ich freue mich für dich, Mario!« Sein Sohn
wirkte ein wenig in die Enge getrieben, und so wechselte Phillip taktvoll das Thema. »Wie spät ist es?«
    »Kurz vor Mitternacht. Läßt du dich vollaufen?«
    »Nein. Ich habe zwei Gläser getrunken, mehr nicht.«
    »Hast du etwas von Janet gehört?« Schon mit sieben Jahren hatten Mario und Maximilian begonnen, ihre Mutter mit deren Vornamen anzureden. Janet war darüber unglücklich gewesen, aber die Zwillinge waren nicht mehr davon abgegangen. »Sie hat angerufen«, antwortete Phillip nun auf Marios Frage, »aus Maidstone. Das liegt in Kent.«
    Mario starrte ihn an. »Wieso? Sie müßte doch längst in Schottland sein!«
    »Sie hat es sich anders überlegt. Das heißt, vermutlich hatte sie nie wirklich vor, Mr. Grant aufzusuchen. Ich bin ein Idiot!« Phillip schlug sich mit der Faust an die Stirn. »Ich hätte auf jeden Fall selber fliegen müssen. Es war nur... du kennst ja mein miserables Englisch. Und dann noch ein wichtiger Termin im Büro... aber ich hätte es trotzdem tun müssen.«
    »Und was geschieht jetzt?«
    »Ich muß morgen früh Mr. Grant anrufen und ihn bitten, mir einen neuen Termin zu geben. Er hat es wirklich nicht nötig, das private Hin und Her einer deutschen Familie mitzumachen. Plätze auf der Blackstone Farm sind heiß begehrt.«
    Mario ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Vielleicht hat Janet ja recht«, meinte er, »und das Ganze ist ohnehin nichts für Max.«
    »Was ist denn dann das Richtige für ihn?« fragte Phillip heftig.
    »Er will nach Hause. Er will wieder mit uns leben.«
    »Das geht nicht.«
    »Aber ich glaube, daß...«

    »Mario, es ist ausgeschlossen. Niemand kann diese Verantwortung übernehmen. Jedenfalls niemand, der nicht dafür ausgebildet ist.«
    »Er ist gesund, Vater. Professor Echinger sagt...«
    »Darauf verlasse ich mich nicht. Das kann niemand garantieren.«
    Sie starrten einander an, Phillip aufgebracht und zutiefst beunruhigt, Mario nachdenklich und etwas traurig.
    »Du wüßtest ihn am liebsten für den Rest seines Lebens hinter Schloß und Riegel, Vater, das stimmt doch«, sagte er leise.
    »Wundert dich das?« fragte Phillip schroff.
    Marios Stimme klang sanft. »Ich kann nicht so fühlen wie du. Er ist mein Bruder. Mein Zwillingsbruder. Manchmal vermisse ich ihn so sehr. Nachts höre ich, wie er mit mir spricht. Es bedrückt mich, daß ich ihm nicht antworten kann.«
    Phillip schwieg. Schließlich sagte er: »Ich rufe trotzdem morgen früh Mr. Grant an.«
    Mario nickte und stand auf. »Ich gehe schlafen. Ich habe morgen um neun die erste Vorlesung.«
    »Gute Nacht«, sagte Phillip. Draußen rauschte der Regen nun stärker, schwoll zu einem Prasseln auf dem Dach an. Mario wartete noch einen Moment, aber der Vater schien bereits wieder in seinen Grübeleien zu versinken. Leise verließ er die Küche.

FREITAG, 26. MAI 1995
    Tina Weiss hatte ihre Mutter kaum gekannt, und es hatte daher selten einmal einen schmerzlichen Augenblick gegeben, in dem sie wehmütig das Vorhandensein einer weiblichen Bezugsperson in ihrem Leben vermißt hätte. Ihr Vater hatte ihr Photos gezeigt, und Tina hatte die schöne, blonde Frau darauf ehrfürchtig betrachtet - ohne daß mehr als eine schattenhafte Erinnerung in ihr erwacht wäre. Sie war zweieinhalb gewesen, als Marietta Weiss an Krebs gestorben war, aber auch bis dahin war ihre Mutter selten um sie gewesen. Es gab vom Vater sorgfältig gesammelte Zeitungsausschnitte und längere Presseberichte, die sich mit der Theaterschauspielerin Marietta Weiss enthusiastisch beschäftigten.
    »Sie war eine große Künstlerin«, hatte der Vater erzählt, »und deshalb war sie auch immer unterwegs. Sie hatte ein Engagement nach dem anderen. Ich habe sie angefleht, es nicht zu übertreiben, denn sie litt unter entsetzlichem Lampenfieber. Wenn sie vor den Vorhang mußte, war sie grün im Gesicht und zitterte am ganzen Körper.«
    »Warum hörte sie dann nicht auf?« fragte Tina, voller Mitleid für die fremde Frau.
    Michael Weiss schüttelte den Kopf. »Das konnte sie nicht. Die Leidenschaft fürs Theater hielt sie fest.
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