Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Suende der Engel

Die Suende der Engel

Titel: Die Suende der Engel
Autoren: Charlotte Link
Vom Netzwerk:
am liebsten in Orten, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten.
    Der Wirt hatte sich für einige Augenblicke entfernt und kehrte nun mit zwei Schnapsgläsern zurück. »Einladung des Hauses«, erklärte er. Er hob sein Glas. »Auf Ihr Wohl!«
    Janet prostete ihm zu, beide leerten sie in einem Zug ihre Gläser.
    »Und wann kehren Sie nach Deutschland zurück?« fragte der Wirt.
    Janet zuckte mit den Schultern. »Eigentlich morgen. Aber wer weiß...« Sie vollendete den Satz nicht, und um das Thema zu wechseln, fragte sie ihrerseits zurück: »Gehört Ihnen das Ringlestone Inn?«
    »Nein, nein. Ich arbeite hier nur. Ich wohne in Harrietsham.«
    »Aha.«
    »Ich habe eine Frau und fünf Kinder«, sagte er stolz, »das sechste ist unterwegs!«
    Janet schauderte ein wenig, verbarg ihr Entsetzen jedoch.
    »Ich wollte immer viele Kinder«, erklärte der Wirt. »Haben Sie Kinder?«
    »Ja. Zwei.«

    »Jungen oder Mädchen?«
    »Zwei Jungen. Zwillinge.«
    »Zwillinge!« Der Wirt war entzückt. »Das haben wir noch nicht geschafft! Wie alt sind die beiden?«
    »Vierundzwanzig.«
    »Was? Dafür sehen Sie viel zu jung aus!«
    Janet lächelte. »Danke. Ich war neunzehn, als sie geboren wurden.«
    »Und sie sehen einander wirklich gleich?«
    »Völlig. Ich meine, ich kann sie natürlich auseinanderhalten. Der Ausdruck ihrer Augen, das Lachen... Ich würde sie nie verwechseln. Aber andere Leute sind unfähig, sie zu unterscheiden. Sogar ihren Vater haben sie immer wieder hinters Licht führen können.«
    Der Wirt war so fasziniert und bohrte so lange nach, bis sie ihm ein Photo zeigte. Sie hatte nur eines dabei; da waren die Jungen zehn und saßen am Eßtisch im Wohnzimmer. Beide trugen die gleichen roten Rollis und blauen Jeans. Aus sanften Augen blickten sie in die Kamera. Zu sanft, wie Janet wieder einmal dachte. Zwei kleine Engel.
    Der Wirt konnte sich kaum beruhigen. »Das ist nicht zu fassen! Nicht der geringste Unterschied! Guter Gott, ich würde nie wissen, wer welcher ist!«
    »In der Schule wußten es die Lehrer auch nie. Einige Male haben sie mich gebeten, die beiden wenigstens unterschiedlich anzuziehen, aber da war nichts zu machen. Sie wollten immer die gleichen Sachen tragen. Sie waren...« Janet stockte, aber dann fuhr sie doch fort: »Sie fühlten sich wie ein Mensch, verstehen Sie? Ständig tauschten sie die Namen, weil sie keine Bedeutung für sie hatten. Und sie sprangen immer füreinander ein.«
    Der Wirt starrte wieder auf das Bild. »Wahnsinn!« murmelte er.

    »Das hier ist Maximilian«, erklärte Janet. »Und das ist Mario. Er ist fünfeinhalb Minuten älter.«
    »Liebe Gesichter haben sie, nicht? Da müßten Sie mal meine fünf sehen. Rotzfreche Gören, mit allen Wassern gewaschen!«
    Natürlich hatte er stapelweise Bilder dabei, die er Janet nun präsentierte. Seine drei Söhne hatten allesamt Zahnlücken und Sommersprossen, seine zwei Töchter sahen ebenfalls aus wie Jungen und streckten auf den meisten Photos die Zunge heraus. Janet fand sie ziemlich gewöhnlich und plump, aber das mochte auch daran liegen, daß die Diskrepanz zwischen diesen Kindern und ihren eigenen zu groß war und ihr dies schmerzlich auffiel. Sie sagte höflich: »Wie nett!« und: »Wirklich reizend!«, dann griff sie entschlossen nach ihrer Brieftasche und bat um die Rechnung. Der Wirt schien enttäuscht und ein wenig verstimmt, aber er kam ihrem Wunsch umgehend nach. Janet belohnte seine Freundlichkeit mit einem fürstlichen Trinkgeld, dann stand sie auf und verließ das Haus. Draußen war es jetzt richtig kalt geworden, und natürlich herrschte inzwischen tiefe Finsternis. Immerhin war der Himmel klar, und Janet hoffte, daß ihr auch unterwegs nirgendwo mehr Regen begegnen würde. Sie sah ohnehin sehr schlecht bei Nacht, und Regen machte alles noch schlimmer. Im Auto stellte sie die Heizung auf die höchste Stufe, aber das würde sich erst nach einer Weile bemerkbar machen. Sie irrte ein wenig herum, ehe sie die M 20 nach London fand, verließ sie aber gleich wieder und nahm die Landstraße Richtung Maidstone. Vielleicht würde sie dort übernachten. Das alte Gefühl der Beklommenheit holte sie wieder ein. Sie mußte Phillip anrufen, heute noch, das war klar. Sie hatte ihm versprochen, sich spätestens von Edinburgh aus zu melden. Wenn sie es nicht tat, würde er glauben, ein Unglück sei geschehen.

    In Maidstone hielt sie an der ersten Telefonzelle. Sie kramte all ihr Kleingeld zusammen und wählte. Phillip mußte neben dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher