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Die Suende der Engel

Die Suende der Engel

Titel: Die Suende der Engel
Autoren: Charlotte Link
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war die eine oder andere Urenkelin des Erbauers hierher geflüchtet, um einen Liebeskummer zu überwinden oder sich auf ein Examen vorzubereiten; ab und zu hatte eine Familie den Sommerurlaub hier verbracht und sich gründlich gelangweilt; vereinzelt war auch der Versuch unternommen worden, Weihnachtsoder Silvesterfeiern für alle Mitglieder des Clans in den alten Räumen zu organisieren-was nie zu etwas anderem als zu handfesten Krächen und vorzeitigen Abreisen geführt hatte. Anfang der achtziger Jahre hatte man sich endlich geeinigt, das Anwesen zu verkaufen. Den Zuschlag hatte ein alleinstehender Herr, ein Professor der Psychotherapie aus Hamburg, erhalten. Der fünfzigjährige Friedrich Echinger, im richtigen Moment in den Besitz einer Erbschaft gelangt, hatte sich einen Lebenstraum erfüllt und in der nordischen Einsamkeit seine eigene Privatklinik für Nervenheilkunde und Psychotherapie gegründet. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten riß man sich inzwischen darum, hier einen Platz zu ergattern. Echinger hatte hervorragende Ärzte eingestellt, idealistische, engagierte Leute, die die Weltabgeschiedenheit dieses Ortes nicht schreckte. Die Betreuung galt als vorbildlich.
    Maximilian Beerbaum stand an einem Fenster im ersten Stock und blickte hinaus in den verregneten Maitag. Gerade jetzt wurde der Regen, der die ganze Nacht vom Himmel gerauscht war, schwächer. Die Wolken rissen
auf, Blau blitzte hervor. Die tropfend nassen Rapsfelder wiegten sich im leisen Wind. Die riesigen Farnblätter im Garten glänzten dunkelgrün und feucht. Mit schrillem Gesang begrüßten die Vögel die ersten tastenden Sonnenstrahlen. Ein Rotkehlchen hatte sich auf der Mauer, die den Garten umschloß, niedergelassen und pickte heftig in den Ritzen zwischen den Steinen. Die Mauer, stilvoll aus rechteckigen, feldgrauen Steinen zusammengesetzt, war drei Meter hoch und gehörte zu den wenigen Dingen, die daran erinnerten, daß man in diesem Haus nicht ohne weiteres kommen und gehen durfte.
    »Es hört auf zu regnen«, sagte Maximilian und wandte sich vom Fenster ab. Professor Echinger saß in seinem schwarzen Ledersessel an der Stirnseite des Raumes, die Beine übereinandergeschlagen, die Hände auf dem Schoß gefaltet. Er betrachtete Maximilian über den schmalen Goldrand seiner Lesebrille hinweg.
    »Vermutlich werden Sie dann nachher wieder zu einer Ihrer langen Wanderungen aufbrechen«, bemerkte er.
    Maximilian zuckte mit den Schultern. »Ich weiß noch nicht. Als ich vor einem Jahr zum erstenmal allein und unbewacht durch die Pforte da unten gehen durfte, war es wie ein Wunder für mich. Ich konnte nicht genug davon bekommen. Durch die Wiesen streifen, an einem Teich liegen und Frösche beobachten...«
    »Sie haben Ihre Freiheit sehr vermißt in all den Jahren, nicht wahr?« fragte Echinger behutsam.
    Maximilian nickte. Er ging zu seinem Sessel zurück, der dem des Professors gegenüber stand, und setzte sich wieder. Er lehnte sich jedoch nicht entspannt zurück, sondern stützte beide Arme auf die Knie und den Kopf in die Hände.
    »Am Anfang ging es mir sehr schlecht, das wissen Sie ja. Die ersten zwei Jahre waren... ach, vergessen wir’s
lieber. Dann kam eine Phase, da war ich dankbar, hier zu sein und nicht im Gefängnis. Ich war bereit, das Gute an meiner Situation zu sehen. Aber Dankbarkeit ist kein besonders haltbares Gefühl, finden Sie nicht auch? Die Depressionen kamen nicht wieder, aber trotzdem fühlte ich mich... als sei dies hier ein Gefängnis.« Maximilian schwieg einen Moment, dann blickte er auf und sah den Professor an. »Ich hoffe, ich kränke Sie nicht mit meinen Worten?«
    »Durchaus nicht«, erwiderte Echinger, »ich kann Ihre Gefühle sehr gut verstehen. Sagen Sie, was empfinden Sie, wenn Sie jetzt daran denken, nach Hause zurückzukehren?«
    Maximilian lachte leise auf, erhob sich erneut und blieb hinter seinem Sessel stehen. »Nach Hause! Sie wissen doch, daß es das für mich nicht mehr gibt!«
    »Die Dinge haben sich immer noch nicht geklärt?« »Mein Vater lehnt es strikt ab, mich wieder aufzunehmen. Meine Mutter ist anderer Meinung, aber sie wird sich nicht durchsetzen können. Der Platz auf dieser entsetzlichen Farm in Schottland ist mir so gut wie sicher.«
    »Sie haben keinerlei Ambitionen, dorthin zu gehen?« In Maximilians Augen trat ein zynischer Ausdruck. Professor Echinger wurde sich einmal mehr bewußt, wie intelligent und wie - um das banale Wort zu gebrauchen - schön dieser junge Mann
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