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Die Stunde des Venezianers

Titel: Die Stunde des Venezianers
Autoren: Cristen Marie
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zuverlässige Vasallen gegen die Ansprüche des Römisch-Deutschen Reiches an den Ostgrenzen.«
    »Ihr seid also eine Andrieu. Wie man in Flandern hört, leidet das Königreich mehr unter den marodierenden Söldnerkompanien, die nach dem Krieg mit England durch das Land ziehen, als unter Übergriffen aus deutschen Landen. Wart Ihr in Andrieu auch davon betroffen? Habt Ihr auch deshalb Eurem Land den Rücken gekehrt?«
    »Meine Heimat ist ein Gebiet mit vielen Höhenzügen, dichten Wäldern, tief eingegrabenen Flüssen und sonstigen natürlichen Hindernissen, das hat uns den Frieden gesichert. Leider versagte dieser Schutzwall gegen die Pest. Die Zahl unserer Herdstellen hat sich nach dem Wüten der Seuche in den vergangenen Jahren um die Hälfte verringert.«
    Ruben lauschte mit zunehmender Verblüffung. Er hatte noch keine Frau kennengelernt, die so sachkundig von Grenzsicherung und Herdstellen sprach. Sie war begehrenswert auch ohne diese Klugheit. Er musste unbedingt dem Gespräch eine noch persönlichere Wendung geben, musste sie dazu bringen, dass sie sich seiner erinnerte.
    »Es ist Euch sicher schwergefallen, Eure Familie zu verlassen, um der Herzogin zu dienen.«
    »Sehr schwer«, bestätigte Aimée knapp, aber als sie nach einer weiteren Drehung des Reigens wieder zusammenkamen, hatte sie ihr Lächeln zurückgefunden. »Wir sprechen immer nur von mir. Wer wartet in Brügge auf Eure Rückkehr? Eure Eltern?«
    »Mein Vater kam auf einer Handelsreise bei einem Schiffbruch im nördlichen Meer zu Tode. Ich kann mich kaum an ihn erinnern. Meine Mutter hat mich aufgezogen. Außer ihr gibt es nur noch einen Vetter aus einer Nebenlinie des Hauses Cornelis. Colard de Fine.«
    »Beschreibt mir Eure Mutter.«
    »Was gibt es da zu beschreiben? Meine Mutter ist … eben eine Mutter.«
    Sein Lachen war so anziehend, dass Aimée die karge Beschreibung entschuldigte, die ihr im ersten Augenblick seltsam herzlos schien.
    »Und Euer Vetter? Ist er Kaufmann wie Ihr?«
    »Colard führt mit mir gemeinsam die Geschäfte. Er ist langweilig. Er ernährt sich von Zahlen und Aktenstaub.«
    »Es hört sich so an, als wärt Ihr froh, den beiden entkommen zu sein.«
    »Ihr seid klug, schöne Frau.«
    »Was denkt Ihr Euch bei solcher Anrede? Wir kennen uns kaum. Was macht Euch sicher, dass ich die Missachtung der Formen mir gegenüber dulde?«
    »Verzeiht mir, ich sagte nur die Wahrheit. Ihr seid schön und nicht wie andere Frauen. Ich weiß, es hört sich wenig originell an, aber es kommt mir vor, als wäret Ihr mir vertraut. Es verwirrt mich von der ersten Sekunde an, in der ich Euch gesehen habe. Vergebt mir.«
    Aimée musste nachdenken, bevor sie erwiderte.
    »Liegt es vielleicht an meinem großmütterlichen Erbe, an ihrer Vertrautheit mit Brügge, von der sie mir etwas mitgegeben hat?«
    »Es quält Euch, von ihr getrennt zu sein.«
    »Woher wisst Ihr das?«
    »Euer Gesicht ist wie die Seite eines Buches. Ich kann darin lesen.«
    Aimées Blick verfing sich im außergewöhnlichen Blau seiner Augen. Was ihre Großmutter wohl zu Ruben Cornelis sagen würde?

2. Kapitel
    H AUS C ORNELIS , B RÜGGE , 26. J UNI 1369
    Colard de Fine fluchte mit solcher Inbrunst, dass die Worte von den Wänden widerhallten. Er marschierte mit langen Schritten den Eichentisch entlang, der das Lager des Handelshauses Cornelis in zwei Hälften teilte. An den Wänden standen riesige Schränke mit eisenbeschlagenen Türen, gestapelte Truhen und Regale, in denen sich Tuchballen, Fellbündel und verpackte Handelswaren stapelten.
    Das Licht der eisernen Laternen konzentrierte sich in der Mitte des Raumes über einem hölzernen Schreibpult. Ein dickes Buch aus gebundenen Pergamentblättern lag aufgeschlagen auf der Platte, und ein kahlköpfiger, gebückter Schreiber war damit beschäftigt, mit kratzender Gänsefeder eine Bestandsliste zu führen. Er ließ sich von Colard nicht stören. Von Zeit zu Zeit warf er einen prüfenden Blick in seine Richtung, kam zu der Erkenntnis, dass der Wutanfall noch andauerte, und setzte seine Arbeit fort. Endlich stemmte sich Colard mit den Händen auf den Tisch, senkte erschöpft den Kopf und sagte mit dumpfer, angestrengter Stimme: »Das ist das Ende. Das Wasser steht uns bis zum Hals.«
    Joris Borsen legte die Feder sorgsam zur Seite. Er hatte bereits Colards Vater als Schreiber gedient, und noch nie in all den Jahren war er bei Vater oder Sohn Zeuge eines solchen Wutanfalles geworden.
    »Was ist geschehen?«
    »Sieh es dir an.«
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