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Die Stunde des Venezianers

Titel: Die Stunde des Venezianers
Autoren: Cristen Marie
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ihn nicht zu lieben. Aufrecht, tapfer, ehrenhaft und hilfsbereit, besaß er alle ritterlichen Tugenden. In Anne-Marie von Grancey hatte er eine Frau gefunden, die er anbetete. Sein Glück war vollkommen, seit sie ihm nach der ersten Tochter vor wenigen Monaten auch den ersehnten Sohn geschenkt hatte.
    »Dann komme ich mit Euch«, sagte er wider besseres Wissen.
    Davon wollte seine Mutter nichts hören.
    »Nein! Es genügt, wenn ich mich in Gefahr begebe. Ich habe ohnehin ein biblisches Alter erreicht. Ich befehle dir zu warten, bis du ein Zeichen von mir bekommst. Andrieu und deine eigene Familie brauchen dich.«
    Sie verschwand in dem Stollen, ohne sich um seinen Protest zu kümmern. Nicht einmal das Dunkel konnte sie aufhalten. Sie kannte den Weg. Erinnerungen begleiteten sie. Die Bilder ihres Lebens. Als Kind war sie aus Courtenay geflohen, hatte Zuflucht im Beginenhof von Brügge und schließlich ihr Glück in Andrieu gefunden. Der Kreis schloss sich, als sie den Hebel umlegte, der die große Tafel mit dem Bildnis der Mutter Gottes zur Seite schob.
    Sie zwängte sich durch den Spalt in die Kapelle von Courtenay und musste blinzeln gegen die jähe Helligkeit der Kerzen, die auf dem Altar flackerten. Gleißende Sonnenlichtbalken fielen zudem durch die langen Fensterschlitze schräg zu Boden, Staubpartikel schwebten gestaltlos darin auf und ab. Es roch so intensiv nach Weihrauch, Wacholder und Rosenwasser, dass sie hüsteln musste. »Großmama!«
    Arme umfingen Violantes Hüften, ein blonder Haarschopf drängte sich an sie.
    »Aimée! Gott sei Dank.«
    Simons sechsjährige Tochter war aus einer versteckten Ecke der Kapelle gekommen und hing beruhigend schwer und lebendig an Violantes Röcken. Sie verströmte den Geruch einer betäubenden Mischung aus Räucherwerk, Rosenduft und scharfem Essig. Violantes eilig tastende Hände fanden keine verräterische Schwellung an ihrem Körper. Das Kind schien gesund, aber es war völlig außer sich. Es zitterte, schluchzte und redete Unverständliches.
    »Langsam, Aimée. Sag mir, was geschehen ist. Wo sind deine Eltern?«
    Eine Bewegung Aimées in Richtung Altar lenkte ihren Blick auf eine reglose Gestalt, die dort mit ausgebreiteten Armen auf den Steinplatten lag. Das Bild glich dem eines Mönches, der sein Gelübde ablegt.
    »Simon!«
    Ihr erschrockener Ruf riss ihn aus seinem Gebet. Er fuhr hoch, und sie wäre beinahe entsetzt zurückgewichen. Das verwüstete Gesicht mit den schwarzen Bartstoppeln zeigte nackte Verzweiflung. In den dunkelblauen Augen glühte das Fieber. Seine Kleider waren beschmutzt, angesengt und zerrissen.
    »Simon, sieh mich bitte an, und bitte sag etwas!«
    »Mutter? Seid Ihr es? Oder täuschen mich die Augen? Ist es der Fieberwahn?«
    »Nein, Simon, ich bin es«, antwortete sie mit fester Stimme.
    »Ihr habt die Fahne gesehen, Mutter. Warum konntet Ihr nicht glauben und es hinnehmen? Die Pest herrscht in Courtenay. Ihr könnt uns nicht helfen. Helft Euch und meinem Bruder und geht.«
    »Ja, Simon, ich habe die Fahne gesehen, aber ich bin hier, weil ich wissen will, wie die Seuche in die Burg kam, und um zu retten, was zu retten ist.«
    Simon hob mit einer hilflosen Geste die Handflächen. »Ein Händler hat die Seuche eingeschleppt – Bänder, Haarspangen, alberner Krimskrams. Er kam aus dem Süden und brach mitten in unserer Halle zusammen. Anne-Marie nahm sich seiner an …«
    Violante schwankte ein wenig.
    »Wo ist Anne-Marie? Wo ist dein Sohn?«
    »Tot, Mutter – sie sind tot.« Er schluchzte auf. »So tot wie der größte Teil des Gesindes. Es ging so schnell, dass wir nicht einmal die Toten in den Hof hinausschleppen konnten. Auf Courtenay atmet man den Tod. Nur Aimée scheint wie durch ein Wunder verschont.«
    Violante musste sich mit der Kraft aller Verzweiflung gegen die verzweifelte Mutlosigkeit aufbäumen, die sie zu erfassen drohte bei diesen Schreckensnachrichten. Ob sie Aimée hielt oder ob das Kind sie stützte, konnte sie kaum noch unterscheiden. Aber das Kind lebte, und noch lebte Simon – zwei der Menschen, denen ihre ganze Liebe galt.
    »Aimée trägt keine Zeichen der Krankheit, und auch du trägst keine«, sprach sie sich an Simon gewandt Mut zu.
    »Es gibt dieses Mal keine Warnung, kein sicheres Zeichen, Mutter. Keine Beulen, keine verräterischen Pestflecken. Die Seuche kommt als Fieber, das seine Opfer von einem Atemzug zum nächsten überfällt. Die Brust schmerzt, man beginnt zu husten, spuckt schwarzes Blut und wird
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