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Die Stunde des Venezianers

Titel: Die Stunde des Venezianers
Autoren: Cristen Marie
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eine eigene Tochter hüten und beschützen werde, solltet Ihr einmal nicht mehr sein. Sie soll das Leben führen, das Ihr Euch für sie und sie sich für sich wünscht. Sie hat meine ganze Liebe und Zuneigung jetzt und für immer«, versprach Jean-Paul.
    Violante schloss kurz die Augen. »Würdest du mich eine kurze Weile in den Arm nehmen?«, bat sie ihn.
    Noch nie war sie ihm so klein und zart erschienen. Sie war weniger geworden. Etwas von ihr war mit Simon gestorben, spürte er, als er sie in den Armen hielt.

 
Erstes Buch
    Das Erbe

1. Kapitel
    G ENT , G RAVENSTEEN , 22. J UNI 1369
    Aufrecht schritt Aimée in der Gruppe der Hofdamen hinter dem Hochzeitspaar. Sie war tief in Gedanken versunken.
    Ihr Leben auf Andrieu mit ihrem Onkel, dessen Söhnen und ihrer Großmutter ging ihr nicht aus dem Kopf, obwohl sie nun schon ein halbes Jahr am burgundischen Hof des Herzogs lebte. Gegen ihren Willen hatte sie Andrieu verlassen müssen. Seit dem Tod ihrer Eltern hing sie unzertrennlich an ihrer Großmutter. In den ersten Jahren war sie ihr kaum von der Seite gewichen. Immer hatte sie in der Angst geschwebt, sie auch noch zu verlieren. Sie wollte es einfach nicht wahrhaben, dass sie alt und gebrechlich wurde. Ein Leben ohne sie konnte sie sich nicht vorstellen. Jeden Tag war sie von einem Hauslehrer unterrichtet worden, aber von ihrer Großmutter hatte sie die eigentlich wichtigen Dinge gelernt, darunter auch die flämische Sprache. Selbst in Verwaltungsdinge und die Führung der Bücher des Lehens wurde sie eingeführt von ihr.
    »Mein Kind, Frauen sind nicht dümmer als Männer. Bildung und Wissen bedeuten Macht«, pflegte Großmutter stets zu sagen, wenn sie einmal nicht lernen wollte.
    Die schönsten Tage für sie waren die mit den Ausritten zu den weit auseinanderliegenden Höfen und Dörfern der Grafschaft. Ihre Großmutter hatte für jeden auch noch so armen Bauern ein offenes Ohr, und um viele Kranke kümmerte sie sich selbst.
    Nach den großen Pestepidemien war es schwer gewesen, das Lehen wirtschaftlich über Wasser zu halten. Fast die Hälfte der Menschen war an der fürchterlichen Krankheit gestorben. Überall fehlten Arbeitskräfte, sowohl bei Feldarbeit und Forstwirtschaft wie auch bei Handwerk und Handel. Stets, wenn die Gefahr des Verhungerns für die Überlebenden bestand, fand ihre Großmutter einen Weg, das Schlimmste zu verhindern; auch wenn Kinder, die kaum laufen konnten, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf den Feldern arbeiten mussten und die Alten bis zum letzten Atemzug ihre Pflichten taten. Sie bot ihnen trotz der Last ihrer Jahre ein untadeliges Beispiel.
    Es hatte viele Tränen gegeben und langer Gespräche bedurft, bis Aimée endlich eingesehen hatte, dass es auf Andrieu für sie keine Zukunft gab. Ihre Vettern würden das Lehen übernehmen. Sie musste heiraten und sich ein eigenes Leben aufbauen.
    »Du kannst nicht auf Andrieu bleiben, geliebtes Enkelkind. Wenn deine Vettern heiraten und Familien gründen, wirst du von der Gnade ihrer Frauen abhängig sein. Du bist klug, eigenwillig und zu schön, um nicht den Neid anderer Frauen zu erwecken. Du wirst Streit mit allen bekommen, wenn deine Vettern aus Liebe zu dir einmal Partei gegen ihre eigenen Frauen ergreifen. Das alles kann und will ich nicht zulassen. Du sollst mehr vom Leben haben, nicht die Rolle einer geduldeten untergeordneten Verwandten spielen müssen.«
    Fanfarenklang riss Aimée aus ihren Gedanken.
    »Lächelt«, sagte eine der Hofdamen an ihrer Seite. »Der Herzog beobachtet Euch.«
    Herzog Philipp überragte alle anderen, denn er trug mit Vorliebe aufsehenerregende Federhüte. Er war von kräftiger, hochgewachsener Gestalt. Unter der Hutkrempe zeigte sich das scharf geschnittene Profil eines Mannes mit dunklem Teint und einem energisch vorstehenden Kinn. In Dijon hatte er keine Gelegenheit versäumt, in Aimées Nähe zu sein und mit ihr zu plaudern, und seine strahlenden Augen, seine lebhaften Gesichtszüge hatten ihn ihr sympathisch gemacht, obwohl man den Herzog herkömmlich nicht als schön bezeichnen konnte. Er war anziehend charmant. Er hatte dafür gesorgt, dass sie auf der Liste der Hofdamen seiner künftigen Gemahlin stand und so den Hochzeitszug nach Gent begleitete. Der Hof zerriss sich darüber im Geheimen das Maul.
    Doch Aimée waren das ganze Gehabe, der Tratsch und das Getue bei Hof ein Greuel. Und jetzt diese endlos sich hinstreckende Hochzeit mit Festbanketten, Turnieren und Jagdausflügen – der Graf
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