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Die Stunde des Schakals (German Edition)

Die Stunde des Schakals (German Edition)

Titel: Die Stunde des Schakals (German Edition)
Autoren: Bernhard Jaumann
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Wahrscheinlich ging er jeden Abend nach der Arbeit zwei Stunden ins Gym, immer zur selben Zeit, absolvierte sein immer gleiches Programm, radelte, stemmte Gewichte, schwamm zwanzig Bahnen. Ein Mann mit Prinzipien. Oder zumindest mit Gewohnheiten.
    Er selbst war anders. Er legte keinen Wert auf Gewohnheiten. Die spielten einem nur vor, dass man dem Leben Gesetze aufzwingen könne. Für ihn waren sie ein hilfloser Versuch, die Zukunft berechenbar zu machen, indem man das Immergleiche der Vergangenheit fortschrieb. Alles Lüge, alles Selbstbetrug. Ihn hatte die Wahrheit zu interessieren, und die Wahrheit ließ sich nicht zwingen. Sie blieb so bitter und einzigartig, wie es ihr gefiel. Er hustete kurz, stand auf, warf die Tasche über die Schulter und ging auf den Mann zu. Das Blatt Papier hielt er vor seiner Brust.
    Der Mann schaute auf die Schrift, schaute ihm in die Augen und fragte: «Was wollen Sie?»
    «Meneer van Zyl hat mich geschickt, um …»
    «Wo ist er?»
    «Es tut ihm leid, er konnte nicht selbst kommen. Ich soll Sie zu ihm bringen.»
    Der Mann stellte seine Rolltasche ab und musterte ihn von oben bis unten. Er fragte: «Privater Sicherheitsdienst?»
    «Windhoek ist gefährlich geworden.»
    Der Mann grinste. «Na, dann ist es ja gut, dass ich Sie dabeihabe. Also los!»
    Der Mann packte den Griff seiner Rolltasche. Ohne sich umzusehen, ging er auf den Ausgang des Flughafengebäudes zu.
    Also los! Als ob man im Leben immer selbst entscheiden könne, wann etwas losging. Er spürte das Gefühl von gestern Abend wieder in sich hochsteigen. Die Wut, als er gesehen hatte, dass der fette Bure ein weißes T-Shirt trug. Dieser hier war drahtiger, hatte Gewohnheiten und trug ein Aluköfferchen, doch sonst waren sie gleich. Irgendwelche Männer, die nicht wussten, wie sehr sie sich über alles täuschten, was zählte.
    Draußen auf dem Parkplatz öffnete er den Kofferraum des Corolla und lud das Gepäck des Mannes ein. Seine eigene Tasche warf er auf die Rückbank. Als er am Kassenhäuschen bezahlt und die Schranke passiert hatte, fragte der Mann neben ihm, wie lange er schon für van Zyl arbeite.
    «Es ist nur ein Job», sagte er.
    Was van Zyl Wichtiges zu erledigen habe? Das wisse er nicht. In der Tat, die Hitze sei wirklich schlimm. Ja, am Nachmittag würde es noch heißer. Nein, er habe keine Ahnung, wie heiß. Ja, die Klimaanlage könne er einschalten.
    «Sie reden wohl nicht gern?», fragte der Mann.
    «Einen Moment, bitte», antwortete er und lenkte den Wagen auf den Sandstreifen am Straßenrand. Dann stieg er aus, öffnete die Sporttasche auf der Rückbank, holte die Kalaschnikow heraus, hielt sie dem Mann auf dem Beifahrersitz an den Kopf und sagte: «Vielleicht könnten Sie jetzt ein Stück fahren, Meneer Maree?»
     
    Aus einem Gartenschlauch tropfte Blut. Der Rasen war schwarz. Zitronenbäume klapperten im Wind. Statt der Früchte hingen Patronenhülsen an den Zweigen. Ein weißes Mädchen klammerte sich an ein Lederkissen und schrie. Mit höhnischem Grinsen kam ein Mann näher und näher. Er beugte sich herab. So weit, dass sein Gesicht unscharf wurde und zerfloss. Statt ihm war plötzlich die Nacht da mit ihren huschenden Schatten, und von irgendwoher dröhnte dumpf der Klang ziegenfellbespannter Trommeln. Rhythmisch, beständig, unaufhörlich, als gelte es, magische Rituale zu begleiten und dunkle Neumondstunden zu durchtanzen, um im Morgengrauen völlig erschöpft zusammenzubrechen und neben der Asche des längst herabgebrannten Feuers einzuschlafen.
    Clemencia Garises öffnete die Augen. Sie lag nackt auf einem Bett. Es dauerte einen Augenblick oder zwei, bis sie die Orientierung wiederhatte. Sie befand sich weder in den Weiten der Kalahari noch an einem Kralfeuer im Kaokoveld. Sie war in ihrem Zimmer, zu Hause, wo sie aufgewachsen war. In Katutura, der Heimat von hundertsiebzigtausend Menschen, in der das Leben brodelte und der Tod allgegenwärtig war, in der es vieles gab, fast alles, doch niemanden, der Buschtrommeln schlug wie in einem Hollywoodfilm über Safaris durchs tiefste Afrika. Clemencia richtete sich auf. Das Trommeln kam von der Tür.
    «Mach auf!», rief Miki Matilda von draußen und rüttelte an der Klinke. Clemencia sperrte immer ab. Nicht so sehr, weil sie Angst vor Überfällen gehabt hätte, sondern weil sie ihr kleines Reich mit Zähnen und Klauen gegen die Invasionsversuche ihrer Familie verteidigen musste. Sicher, das Häuschen besaß nur zwei Zimmer, und eines davon für sich
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