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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen
Autoren: Harry Thürk
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Langsam ließ Bindig den Kopf sinken. Er preßte sich ganz dicht an die Erde und schloß die Augen. Er begriff, daß er den Wald nicht mehr erreichen konnte. Langsam begann er zurückzukriechen.
    Er war noch nicht sehr weit gekommen, als von dem Hügel her das russische Maschinengewehr zu tacken begann. Es war ein langsames, bösartiges Geratter. Das Gewehr zielte auf Bindig. Er merkte es daran, daß die Geschosse ununterbrochen über ihn hinwegsurrten. Aber es konnte ihn nicht treffen, denn es stand zu hoch, und es konnte nicht weiter nach unten schwenken, weil es sonst in den Bereich des deutschen Maschinengewehrs am Waldrand gekommen wäre. Bindig hinterließ eine dünne rote Spur, wo er über Schnee kroch. Er arbeitete sich langsam auf den Unterarmen vorwärts und zog den Körper nach. Der Fuß schmerzte. Am Wald schoß wieder der Panzer, Die Granaten schlugen auf dem Hügel ein. Die Geschosse der Siebzehnzwo rauschten in regelmäßigen Abständen über den Hügel hinweg weit hinten in den Wald. Dazwischen schoß eine Batterie Werfer, deren Granaten gurgelnd zwischen die Bäume am Waldrand prasselten. Bindig erreichte das Loch, ohne noch einmal getroffen zu werden. Zado hatte sich aufgerichtet und blickte ihm entgegen. Er griff nach ihm, aber in seinem Griff war keine Kraft. Bindig schaffte es allein. Er wälzte sich über den Rand des Loches und ließ sich langsam hinabgleiten.
    „Aus. ..", sagte Zado müde. „Heb den Fuß hoch, vielleicht kann ich wenigstens einen Fetzen drumwickeln ..."
    Bindig legte sich mit dem Rücken an die Wand des Loches und hob das Bein, bis er es Zado auf das angezogene Knie des rechten Beines legen konnte. Zado hielt einen Fetzen in der Hand. Er konnte den Oberkörper nicht bewegen, er konnte sich auch nicht bücken, aber er schaffte es, Bindig den Knöchel zu verbinden. Eine Leuchtkugel flammte auf. Sie glitt wie vorhin, leicht vom Wind abgetrieben, auf den Wald zu und warf ihr Licht bis in das Loch, in dem die beiden hockten. Für ein paar Sekunden verzog Zado das Gesicht zu einem Grinsen.
    „Schön, daß sie Licht machen .. .".quetschte er zwischen den Zähnen hervor, „das hätten wir uns nicht träumen lassen!"
    Er hatte viel Blut verloren. Sein Gesicht war gelblich geworden. Er wußte, daß in ein oder zwei Stunden die Schmerzen unerträglich sein würden, weil dann die Schmerztabletten nicht mehr wirkten. Er erinnerte sich sonderbar deutlich an den Tod des kleinen Oberkellners aus Stuttgart, wenn er die Maschinenpistole anblickte, die neben ihm lag.
    Als die Leuchtkugel erloschen war, ließ Bindig den Fuß sinken und sagte leise: „Ich habe noch Zigaretten. Wir können uns welche anstecken. Es hat keinen Zweck mehr, sie aufzuheben."
    Sie brannten Zigaretten an und rauchten. Es waren Zigaretten von Warasin. Lange Pappmundstücke und wenig Tabak.
    „Ob sie Timm gefunden haben?" fragte Zado.
    Bindig antwortete nicht. Er zog an der Zigarette und blickte auf die Glut.
    „Es tut mir leid, daß du nicht wenigstens Timm erschießen konntest", sagte Zado langsam. „Es tut mir verdammt leid. Er hat Anna getötet, und du konntest ihn nicht dafür erschießen. Es hätte dir nicht so weh getan, wenn du es hättest tun können ..."
    Die Granatwerfer streuten den Waldtand ab. Die Geschosse prasselten in das Gezweig und zerplatzten mit puffenden, hohlen Detonationen. Dazwischen tackte wieder das Maschinengewehr auf dem Hügel.
    „Er war schon tot", sagte Bindig, „einen Toten kann man nicht noch einmal töten. Er hatte einen riesigen Glassplitter im Hals, die Hälfte davon hing heraus. Man kann selbst Timm nicht zweimal töten."
    „Er hätte es verdient. Ich weiß nicht, wie es gekommen ist, daß ich Timm so hasse. Ich hätte es ihm gegönnt, sechsmal zu sterben. Zwölfmal!"
    „Wir wissen manches nicht. Und wir werden manches nicht mehr erfahren", sagte Bindig.
    Der Panzer schoß ein paar Granaten auf den Hügel. Das Maschinengewehr dort oben schwieg wieder.
    „Und manches wissen wir", sagte Zado, „aber das nutzt uns nichts mehr." Er zog an seiner Zigarette, und sein Gesicht war sekundenlang von der Glut angeleuchtet. Es war ein blasses, sehr schmales Gesicht mit Falten um die Mundwinkel. Er sagte: „Es ist egal, wie lange wir hier noch liegen. Irgendjemand wird uns finden. Sind es die vom Wald drüben, unsere, dann werden sie mit Sicherheit annehmen, daß wir Russen sind. Sie werden sich freuen, daß sie uns erwischt haben. Sind es die Russen, die oben auf dem Hügel liegen,
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