Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen
Autoren: Harry Thürk
Vom Netzwerk:
der über ihre Köpfe fegte, und sie versuchten es nun nicht zum drittenmal, auf der Kuppe in Stellung zu gehen.
    Es würde Tag werden. Dann würde man die Panzer sehen. Dann würde man ein paar Granatwerfer holen und sie zusammenschießen. Das war vor einer Stunde gewesen. Und nun lagen unten, am westlichen Fuße des Hügels, Bindig und Zadorowski.
    Sie hatten sich durch die Artilleriestellungen, vorbei an abgestellten Fahrzeugen und bereitgestellter Infanterie, bis hierher geschlichen. Es war nicht schwer gewesen, denn es waren viele Melder unterwegs. Verletzte humpelten zurück, und Fernsprechleute suchten die Leitungen nach Störquellen ab. Die beiden waren nicht von den Soldaten zu unterscheiden, denn sie trugen noch immer die braunen Uniformen. Irgendwo hatte Zado eine neue Pelzmütze aufgelesen, die einer der Rotarmisten verloren haben mußte. Er trug jetzt Timms Maschinenpistole. Sie waren bis hierher an den Fuß des Hügels gekommen. Nun hockten sie nebeneinander in einem alten Schützenloch, das eine Granate getroffen und aufgewühlt hatte. Als sie den Hügel umgingen, hatte das Feuer geschwiegen. Sie hatten nicht gewußt, daß drüben am Waldrand die Panzer standen. Aber als sie an dem Loch vorbei wollten, in dem sie jetzt hockten, hatten die Rotarmisten oben auf der Hügelkuppe zum zweiten Male versucht, das Maschinengewehr aufzustellen. In diesem Augenblick war vom Wald her der Schuß gekommen, und die beiden hatten in dem Loch Schutz gesucht.
    Sie hatten keine Ruhe, sie wollten weiter. Zado drängte dazu. Als sie ein paar Minuten gewartet hatten, erhoben sie sich und arbeiteten sich langsam vorwärts. Sie waren ein paar Schritte von dem Loch entfernt, als es am Waldrand aufblitzte. Die Granate fauchte über ihre Köpfe und schlug wenig hinter ihnen am Abhang des Hügels ein. Der Druck der Explosion schleuderte sie ein paar Meter vorwärts. Im Jaulen der Splitter hörte Bindig, wie Zado einen Fluch ausstieß. Er packte ihn und zog ihn zurück. Als sie sich wieder in das Loch schwangen, blitzte es am Waldrand erneut auf. Die Granate galt ihnen, aber sie schlug diesmal weiter links ein, und die Splitter zischten über das Loch hinweg. Bindig spürte die warme Feuchtigkeit, als er Zados Mantel anfaßte. In dem Ungewissen Licht sah er, daß auf der Hand dunkle Flecke waren.
    „Aus!" hörte er Zado leise sagen. „Auf dem Hügel die Russen und am Wald unsere. Einer von beiden wird uns den Rest geben." Es klang heiser, gepreßt.
    Bindig riß ihm den Mantel auf und suchte die Wunde. Sie lag dicht unter dem Brustkorb. Sie war nur klein, aber der Splitter steckte im Leib.
    „Er hat mir die Därme zerrissen, glaube ich", sagte Zado, „es wird eine Weile dauern, ich habe lange nichts gegessen."
    Bindig öffnete die Jacke und trennte mit dem Messer ein Stück von dem verschwitzten Unterhemd ab. Keiner von beiden besaß mehr ein Verbandpäckchen. Als er Zado den Fetzen auf die Wunde gedrückt hatte, griff er in dessen Uhrtasche und zog die Kapsel mit den Schmerztabletten heraus. Er ließ ihm den Inhalt einfach in den Mund fallen. Vom Rand des Loches nahm er eine Handvoll Schnee und gab sie Zado. Der Schnee war schmutzig, aber Zado schluckte ihn.
    „Schmerzen?" fragte Bindig.
    „Es geht", antwortete Zado. Er war sehr ruhig. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand des Loches, die Beine weit ausgestreckt. „Es wird noch schlimmer werden", sagte er. „Wenn du willst, kannst du abhauen. Du kommst vielleicht noch durch."
    Seitlich von ihnen nahm das Feuer wieder zu. Aber das waren nicht mehr die deutschen Geschütze. Aus den Artilleriestellungen, an denen sie vorbeigeschlichen waren, schoß es auf die Infanterie, die in der Nähe des Waldrandes steckengeblieben war. In den hellen, blubbernden Ton der Granatwerfer mischte sich das Jaulen der Raketengeschosse, die wie Kometen, sprühende Schweife hinter sich ziehend, herangerast kamen. Die Feuerschläge erhellten für Sekunden das umgepflügte Niemandsland zwischen dem Hügel und dem Waldrand. Drüben am Wald brachen die Granaten in die Bäume und schleuderten Äste und trockenes Gezweig hoch. Die Panzer schossen nicht. Erst als nach einiger Zeit auf dem Hügel plötzlich das Maschinengewehr zu schießen begann, krachte aus dem Dunkel der Bäume wieder der harte Schlag einer Panzerkanone, und auf der Kuppe des Hügels spritzte die Erde hoch.
    Zado lehnte mit geschlossenen Augen an der Wand des Loches. Er preßte eine Hand gegen den Leib und hielt sich mit der anderen am
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher