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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen
Autoren: Harry Thürk
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Ostfront verlegt werden sollte, sagte Timm nachdenklich: „Das gefällt mir nicht. Ich kann nicht behaupten, daß mir das Freude macht. Das hätte ich mir gerne erspart."
    Zado war der letzte von denen, die damals die Siege der Kompanie miterlebt hatten. Er kannte noch die Forts von Eben Emael und die französischen Mädchen. Er wußte um die Abenteuer in Holland und erinnerte sich an die aufgekrempelten Ärmel in Kreta. Es war vorbei. Hier war der Osten.
    Sie lagen an der Straße, ein paar Kilometer hinter der Front der Roten Armee. Im Westen grummelte die Artillerie. Der Frost biß in Timms Wunde. Zado lag neben ihm, ausgepumpt und erschöpft wie er. Das ist unsere letzte Station, dachte Timm. Hier haben sie uns fertiggemacht. Nirgends sonst haben sie uns so fertiggemacht wie hier. Mit Sonnenblumenkernen im Magen und Machorka in den Manteltaschen haben sie uns fertiggemacht und mit Stalinorgeln und T 34 und Granatwerfern und mit allem, was die anderen auch hatten. Die anderen haben es nicht geschafft, aber sie sind dabei, es zu schaffen. Irgendetwas ist vorgegangen. Irgendetwas hat sich verändert. Nicht bei uns. Wir sind immer so gewesen. Die Gegner sind anders geworden. Und wir haben keine aufgekrempelten Ärmel mehr wie in Kreta. Wir haben Löcher im Fell und Zähneklappern.
    Er fluchte leise vor sich hin. Zado reagierte nicht darauf. Vor ihnen lag die Straße und dahinter, in einiget Entfernung, das Gehöft Annas. Die Straße war leer. Es war kein Fahrzeug zu sehen. Nur eine Gestalt kam aus dem Dorf und ging mit schnellen Schritten hinüber auf das Gehöft zu. Es war ein Russe, Timm erkannte ihn an der Uniform und an der Pelzmütze. Er trug kein Gewehr. Ein Offizier, dachte Timm. Das Gehöft dort drüben scheint sein Quartier zu sein. Es ist zu still für einen Stab. Er sah der Gestalt nach, die sich undeutlich von dem matt beleuchteten Schnee abhob. Diese einzelne Gestalt, die quer über die verschneiten Felder auf das Gehöft zuging, flößte ihm wieder den Gedanken ein, daß diese Armee und ihre Front so stabil waren, wie die deutsche Armee vielleicht niemals gewesen war.
    Er überlegte, wie sie diese Front überschreiten könnten, aber die Zuversicht, die er noch vor Stunden gehabt hatte, war nicht mehr da. Er fühlte, daß es ihm schwerfallen würde, sich zu erheben. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn, als er überlegte, daß er es vielleicht nicht mehr schaffen könnte. Als der Soldat in dem Gehöft verschwunden war, erhob sich Timm mühsam und sagte zu Zado: „Los, komm! Entweder schaffen wir es jetzt, oder ..."
    „Oder wir schaffen es nicht", gab Zado zurück. Ihm war alles gleichgültig, was nun noch geschehen konnte.
    Timm schleppte sich vorwärts. Manchmal torkelte er und hielt sich nur mit Mühe aufrecht. Nach einigen hundert Schritten wußte er, daß er es nicht mehr
    bis zur Front schaffen würde. Er nahm diese Erkenntnis mit einem gewissen
    Gleichmut hin, aber zugleich saugten sich seine Augen an dem Gehöft fest, in dem der Offizier verschwunden war. Bis zu diesem Gehöft wird Klaus Timm
    noch marschieren, dachte er. Bis zu diesem Gehöft. Und dort wird er den Krieg beenden. Sie werden in diesem Dorf merken, daß Klaus Timm hier den Krieg beendet hat. Die letzten hundert Meter stolperte er mehrmals, und einmal fiel er mit dem Gesicht in den Schnee. Zado keuchte neben ihm. „Ich kann dich nicht schleppen", sagte er, „ich bin fertig."
    „Mich braucht keiner zu schleppen", antwortete Timm, „mich hat noch nie einer geschleppt." Er torkelte weiter, aber er gab die Panzerfaust nicht aus der Hand. Als er nach dem Gehöft einbog, sagte Zado: „Was willst du um Himmels willen dort drüben? Da ist der Russe drin ..."
    „Genau den will ich", knurrte Timm. „Wo ich bin, wird gestorben. Das war schon immer so ..."
    Er schleppte sich durch das Tor, an dem der erschöpfte Zado stehenblieb,
    sich an den Pfosten lehnend, überlegend, was er jetzt tun sollte. Timm klappte das Visier der Panzerfaust hoch. Er hatte sich davon überzeugt, daß sie scharf
    war. Er brachte es fertig, lautlos bis an das Fenster zu gelangen, aus dem ein
    schmaler Lichtschein nach draußen drang. Vor dem Fenster stand ein umgekippter Futtertrog. Timm stieg hinauf und sah durch den Spalt im
    Vorhang in die Küche. Er sah den Rücken des Russen vor sich, der am Tisch
    saß, den Kopf in die Hände gestützt. Eine Sekunde lang sah Timm ihn so sitzen. Dann stieß er mit einer schnellen Bewegung, die seine Schulter
    schmerzen
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