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Die Stimmeninsel

Titel: Die Stimmeninsel
Autoren: Robert Louis Stevenson
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auf dem Tisch, und das verschließbare Schreibpult stand an der Wand, so daß ein jeder sehen konnte, es war das Haus eines wohlhabenden Mannes.
    Kalamake ließ Keola die Fensterläden schließen, während er selbst alle Türen verschloß und dann den Deckel des Pults aufklappte. Aus diesem nahm er ein paar Halsbänder mit Amuletten und Muscheln, ein Bündel getrockneter Kräuter und einen grünen Palmenzweig.
    »Was ich vorhabe«, sagte er, »ist etwas überaus Wunderbares. Die Menschen vor alters waren weise; sie wirkten Wunder, und dieses ist eins davon; aber das geschah nachts, im Dunkeln, unter den richtigen Sternen und in der Wüste. Dasselbe will ich hier in meinem eigenen Hause und im hellen Tageslicht vollbringen.«
    Mit diesen Worten legte er die Bibel unter das Sofakissen, so daß sie ganz verdeckt war; dann nahm er aus dem Pult eine Mappe von wunderbar feinem Gewebe und machte aus den Kräutern und Blättern ein Häufchen, das er auf Sand in eine Blechpfanne legte. Dann hängten er und Keola die Halsbänder um und stellten sich auf entgegengesetzte Zipfel der Matte einander gegenüber.
    »Die Zeit ist da«, sagte der Zauberer, »habe keine Furcht!«
    Damit zündete er die Kräuter an und begann Worte zu murmeln und mit dem Palmzweig zu wedeln. Zuerst war das Licht dämmrig wegen der geschlossenen Fensterläden; aber die Kräuter gerieten stark in Brand, die Flammen schlugen auf Keola, und das Zimmer glühte von dem Feuer. Dann erhob sich der Rauch und machte ihm den Kopf schwindlig, es wurde ihm dunkel vor den Augen, und der Klang von Kalamakes Murmeln strömte in seine Ohren. Und plötzlich war es, wie wenn es der Matte, auf der sie standen, einen Ruck gäbe, der schneller als ein Blitz zu sein schien. In demselben Nu waren Zimmer und Haus verschwunden, und in Keolas Leib war keine Spur von Atem mehr. Unzählige Lichter funkelten ihm um Augen und Kopf, und er fand sich auf einem Strande an der See, unter einer heißen Sonne, vor einer starken, donnernden Brandung: Er und der Zauberer standen dort auf derselben Matte, sprachlos, keuchend und sich aneinander festhaltend.
    »Was war dies?« schrie Keola, der zuerst wieder zu sich kam, weil er der Jüngere war. »Der Stoß, den es mir gab, war wie der Tod.«
    »Es tut nichts«, keuchte Kalamake. »Es ist jetzt vorüber.«
    »Und im Namen Gottes, wo sind wir?« rief Keola.
    »Danach mußt du nicht fragen«, antwortete der Hexenmeister. »Da wir nun hier sind, so haben wir etwas zu tun, und daran müssen wir uns jetzt machen. Ich muß erst wieder zu Atem kommen; aber geh du derweile nach dem Waldsaum hinauf und bringe mir die Blätter von dem und dem Kraut und dem und dem Baum; du wirst sie dort reichlich wachsen finden – bringe drei Handvoll von jedem. Und sei flink! Wir müssen wieder zu Hause sein, bevor der Dampfer kommt; es würde auffallen, wenn wir verschwunden wären.«
    Und er setzte sich auf den Sand und keuchte.
    Keola ging den Strand hinauf, der aus schimmerndem Sand und Korallen bestand und mit seltsamen Muscheln bestreut war; und er dachte in seinem Herzen:
    »Wie kommt es, daß ich diesen Strand nicht kenne? Ich will wieder hierhergehen und Muscheln sammeln.«
    Vor ihm hob sich eine Reihe von Palmen gegen den Himmel ab – nicht wie die Palmen auf den acht Inseln, deren verdorrte Fächer wie Gold in dem Grün hingen, sondern alle groß und frisch und schön; und er dachte in seinem Herzen:
    »Es ist sonderbar, daß ich dieses Wäldchen noch nie gefunden habe. Hierher will ich wieder gehen, wenn es warm ist, und will hier schlafen.« Und ferner dachte er: »Wie heiß es plötzlich geworden ist!« Denn auf Hawaii war es Winter, und der Tag war kühl gewesen. Und er dachte weiter:
    »Wo sind die grauen Berge? Und wo ist das hohe Kliff mit dem überhängenden Walde und den trillernden Vögeln?»
    Und je mehr er darüber nachdachte, desto weniger konnte er ausmachen, in welchen Bezirk der Insel er geraten wäre.
    Am Saum des Waldes, wo dieser an den Strand stieß, wuchsen die Kräuter; der Baum aber wuchs weiter rückwärts. Als nun Keola auf den Baum zuging, bemerkte er ein junges Weib; die hatte nichts auf ihrem Leib als einen Blätterschurz.
    »Na«, dachte Keola, »sie halten in diesem Teil des Landes nicht viel auf ihre Kleidung.«
    Und er stand still, weil er dachte, sie würde ihn sonst bemerken und davonlaufen; und als er sah, daß sie immer noch vor sich hinblickte, summte er laut. Beim Klang sprang sie auf, ihr Gesicht war aschfahl, sie
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