Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stimme des Wirbelwinds

Die Stimme des Wirbelwinds

Titel: Die Stimme des Wirbelwinds
Autoren: Walter Jon Williams
Vom Netzwerk:
Krankenhauses hatte er stets langärmelige Sachen an, so daß er das grüne Armband weit an seinem Arm hochschieben und unter der Manschette verstecken konnte.
    Er wollte nicht, daß die Leute dachten, er sei verrückt.
     
    »In Marseille gab es einen Krieg zwischen den Jugendbanden«, sagte Steward. »Der flammte von Zeit zu Zeit auf. Ich war Mitglied bei den Canards Chronique, seit ich zwölf war. Wir haben hauptsächlich mit Informationen gehandelt. Software, verbotene Wetware. Auch mit Drogen. Das ganze Spektrum, das die Amerikaner als Jugendkriminalität bezeichnen. Wir waren schlaue Burschen.« Er erinnerte sich daran, wie er mit einem blonden Mädchen auf einem schmiedeeisernen Balkon gesessen, Whisky getrunken und zum letztenmal das Mittelmeer angeschaut hatte. Das Meer war herzzerreißend schön, blauer und tiefer als die Augen des blonden Mädchens, blauer als das Spiegelbild des Himmels, das er in Ashrafs Fenster sah. Er erinnerte sich daran, wie das Feuer ferner automatischer Waffen geklungen hatte, das von den stuckverzierten Häuserfronten und den niedrigen Betonrinnsteinen widerhallte. Er erinnerte sich auch an seine Müdigkeit, an das Gefühl, daß er zu all dem keine Lust mehr hatte. Er beherrschte das Spiel zu gut. Er war es leid, Menschen zu manipulieren.
    Das Mädchen neigte den Kopf und lauschte. »Klingt, als ob die Femmes Sauvages ihr Gebiet verteidigen würden«, sagte sie. »Wer greift da an?«
    Etienne hatte diese Information in den letzten zwölf Stunden ausgestreut. »Haut-Samurais«, sagte er.
    Das Mädchen zuckte die Achseln. Sie hatte einen leichten Sonnenbrand auf den Wangen und auf der Nase. Sie sah ihn an. »Wollen wir reingehen?« fragte sie.
    Etienne Njagi Steward zündete sich eine Zigarette an. »D'accord«, sagte er. Er hatte nicht vor, sie wiederzusehen.
    »Ich war erst sechzehn«, sagte Steward, »aber ich wußte, daß es im Leben was Besseres gab, als für ein paar Häuserblocks in der Altstadt zu sterben.«
    Dr. Ashrafs ölige Haare hingen bis auf die Schultern. Sein fleischiges, unbewegtes Gesicht verriet wenig Interesse. »Haben Sie da beschlossen, sich freiwillig zu melden?« fragte er.
    »D'accord«, sagte Steward.
     
    Steward war schwach, als er zum erstenmal aufwachte. Eine Maschine atmete für ihn, und er hatte einen Schlauch im Hals. Er vermißte Dinge: die Implantate, die Buchse für das kybernetische Interface an seiner Schädelbasis. Sein Geist enthielt Erinnerungen an Reflexe, mit denen seine jetzigen nicht mithalten konnten, an eine Kraft, die irgendwie versiegt war, während er nicht hingeschaut hatte. Er brachte jeden Tag Stunden damit zu, sich schonungslos unter Gewichten zu stählen, in den Tretmühlen des Krankenhauses zu laufen und die zarten Muskeln in seinen Beinen, Armen und Schultern zu beanspruchen. In einer stillen Ecke des Körpertherapiebereichs trainierte er auch Kampfkünste, teilte in kalter, zielbewußter, schweißtreibender Wiederholung immer und immer wieder Hiebe, Tritte und Kombinationen von beiden aus. Männer und Frauen, die sich von chirurgischen Eingriffen erholten, oder alte Leute, die ihre ersten paar wackligen Schritte in neuen jungen Körpern machten, wandten den Blick von ihm ab, von der grimmigen Wildheit, mit der er die Luft, seine Erinnerungen und sich selbst attackierte.
    Die Übungen füllten die langen Stunden, bauten Muskeln auf und schärften Reflexe. Sie hielten seinen Geist mit unmittelbaren Sinneseindrücken beschäftigt, und das wollte er auch. Er hatte zuviel Freizeit, und er wollte sich nicht in Erinnerungen verlieren.
    Immer wieder ging er in seiner Ecke die Bewegungsabläufe durch, zertrümmerte Knochen, stach Augen aus und brach Wirbelsäulen.
    Wessen, wußte er bis jetzt noch nicht.
     
    Im Zimmer neben Steward wohnte ein Mann namens Corso, der mit einer manischen Last an Schuld und Paranoia aus zweiter Hand lebte. Er war aufgewacht und hatte festgestellt, daß seine schlimmsten Befürchtungen wahr geworden waren, daß die gesamte Welt der Persönlichkeit seines Alpha wie ein zerbrochener Spiegel in Stücke gefallen war und daß er sich selbst monatelang mit den Scherben gequält hatte, bevor er sich schließlich von einer Brücke stürzte. Jetzt war er wieder da, und es war noch nicht vorbei; das einzige, was er vor sich sehen konnte, war der gähnende Horror, der Alptraum, der kein Ende nahm …
    Die Ärzte versuchten Corsos Welt mit Medikamenten sanfter zu machen, ihr wieder Wärme und Freundlichkeit zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher