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Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Die Stille über dem Wasser: Roman (German Edition)
Autoren: Clara Salaman
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ihr.
    Er kehrte an den Tisch zurück, stellte die Getränke ab und nahm das Foto, das immer noch zwischen den feuchten Abdrücken der Bierflaschen lag. »Ich bin letztes Jahr hingesegelt«, erklärte er beiläufig und ließ das Foto wieder fallen. Tja, dann zeig mal, was du so draufhast, Blofeld.
    »Wohin denn?«, fragte sie und wandte sich ihm zu. Und mit einem Mal galt ihre Bewunderung nun doch ihm.
    »In die Karibik. Nach Barbados.«
    »Nein! Ganz allein?«
    »Wir waren zu zweit. Bloß ich und der Skipper.«
    Ihre Augen weiteten sich. Sie starrte ihn an und dachte an den Johnny mit vierzehn zurück, mit all seinen Träumen. Und nun lebte er sie. Kein Mensch setzte später um, was er mit vierzehn prophezeite. Aber Johnny war quer über den Atlantik gesegelt. Er redete nicht nur so daher. Er war alles, was sie sich erhofft hatte. Und noch ein bisschen mehr.
    »Und wie war das so? Ganz allein so weit zu segeln, meine ich? Quer übers Meer? War es der reinste Wahnsinn? Ist es das Paradies?«
    Johnny nahm einen kleinen Schluck aus seiner Bierflasche. Ihr Enthusiasmus erschlug ihn beinahe. Damit konnte Blofeld endgültig einpacken.
    »Es war was ganz Besonderes«, sagte er. Und das war es auch. Nach Wochen auf dem Atlantik endlich Barbados am Horizont auftauchen zu sehen, war wie das reinste Wunder gewesen. Er hatte während der langen Überfahrt ein bisschen von seinem Verstand eingebüßt, aber das würde er ihr natürlich nicht auf die Nase binden.
    Die Überfahrt hatte sechs Wochen gedauert. Sie hatten fast keinen Wind gehabt, und die Isolation hatte ihm gehörig zugesetzt. Irgendwann war er zu der Überzeugung gelangt, dass aus irgendeinem Grund – als Folge einer atomaren Katastrophe oder einer Kollision mit einem Kometen – jegliches Leben auf dem Planeten Erde ausgelöscht worden war. Seine apokalyptische Phantasie hatte ihn so sehr im Würgegriff gehabt, dass er geschworen hätte, sein Boot sei als Einziges auf der ganzen Welt verschont geblieben, und nun, da er all seine Freunde und seine Familie tot glaubte, war ihm zum ersten Mal mit erschreckender Klarheit bewusst geworden, wie sehr er sie liebte. Natürlich ahnte Clem nichts davon, doch auch sie war ihm in den Sinn gekommen, als Beispiel dafür, wie leichtfertig man Gelegenheiten verstreichen ließ und dass man das Leben gefälligst beim Schopf packen musste. Er hatte Land gerochen, noch bevor es in Sichtweite gekommen war. Er hätte nie gedacht, dass von einem Landstrich ein so intensiver Geruch ausgehen könnte – satt, erdig und reich. Der Planet Erde riecht nach Erde. Er war an Deck getreten, hatte den Blick über die üppige Vegetation und das türkisfarbene Meer schweifen lassen, in der verzweifelten Hoffnung, irgendwo einen Hinweis auf menschliches Leben auszumachen. Schließlich hatte er ihn gefunden. Er hatte durch sein Fernglas geblickt, hatte die Boote und Strandbars gesehen, die winzigen Flugzeuge am Himmel, bei deren Anblick ihn ein überwältigendes Glücksgefühl und eine Woge der Liebe für die Menschheit überkommen hatten. Barbados war tatsächlich das Synonym für das Paradies gewesen, wenn auch aus anderen Gründen, als sie vermutete.
    »Es ist das Paradies«, erklärte er. »In ein paar Monaten fahre ich wieder hin.«
    Sie spürte, wie ihre Begeisterung ein klein wenig schwand, obwohl ihr bewusst war, wie unlogisch es war. Sie hatte ihn seit Jahren nicht gesehen, dennoch beschwor die Vorstellung, dass er bald wieder fort wäre, eine trostlose Leere in ihr herauf. »Darf ich mitkommen?«, fragte sie, doch er lachte nur, und sie kam sich blöd vor. Sie hatte sich von ihren Gefühlen mitreißen lassen. Sie musste vorsichtig sein, immer schön einen Schritt nach dem anderen machen. Er war ein Abenteurer, und Abenteurer zogen nun mal los, um Abenteuer zu erleben. Deshalb würde sie sich zu ihren eigenen Abenteuern aufmachen müssen. Und sie würde ebenso tapfer und furchtlos sein wie er.
    »Vielleicht können wir uns ja irgendwo treffen. Ich fahre nämlich auch weg.« Sie schenkte ihr Bier ein und sah zu, wie sich eine dicke Schaumkrone im Glas bildete. »Ich muss die Welt sehen, Johnny. Ich habe keine Lust, hier bei meiner Mutter zu versauern.«
    Mit einem Mal hatte er das dringende Bedürfnis, sich vorzubeugen und sie zu küssen. Ihm war nicht entgangen, dass ihr die Gesichtszüge entglitten waren, als er gesagt hatte, dass er bald wieder aufbrechen würde. Ihr Gesicht war wie ein offenes Buch für ihn. Zum allerersten Mal in seinem
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