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Die Sternseherin

Titel: Die Sternseherin
Autoren: Jeanine Krock
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Farbe Estelle an geronnenes Blut erinnerte. Da widmete sie sich doch lieber weiter den körperlichen Vorzügen des Friseurs. Bevor sie ihn jedoch weiter betrachten konnte, hing ihr Kopf bereits rücklings über einem Waschbecken und sie genoss anstelle der Aussicht eine Kopfmassage. Auch nicht schlecht. Ihre Hand schlich sich zur Hosentasche und ertastete die Kreditkarte. Manon hatte gestern im Supermarkt große Augen gemacht und erst da war Estelle die ungewöhnliche Farbe der polierten Plastikoberfläche aufgefallen: Schwarz. Damit hätte sie vermutlich tatsächlich ein Schloss kaufen können, und sie besaß sogar noch eine zweite, burgunderfarbene Karte. Diese hatte sie am Abend beim Sortieren ihrer Reiseunterlagen entdeckt. Das kostbare Stück ruhte allerdings nun unter einer losen Bodendiele in ihrem Zimmer. Nicht auszudenken, wenn beide Karten einem Taschendieb in die Hände fielen.
    Sie nickte automatisch bei allen Vorschlägen, die der Friseur ihr unterbreitete, und als sie endlich wagte, ihre Augen zu öffnen, verstummte im selben Moment der Fön. Eine fremde Frau blickte sie aus dem Spiegel an. Zufrieden zupfte er eine Strähne zurecht. »Du siehst entzückend aus!«
    Sie konnte ihm nur recht geben. Dies hier war eine neue, attraktive Estelle, immer noch viel zu dünn, aber mit ausdrucksvollen Augen und einem Haarschnitt, der ihrem schmalen Gesicht schmeichelte. Sie bezahlte und ließ sich noch die Adressen einiger Modeläden geben, wo sie wenig später ohne die Spur eines schlechten Gewissens ausgiebig Beute machte, anschließend mit Tüten beladen im nächstgelegenen Café einkehrte und zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ein spätes Mittagessen genoss. Sogar ein Glas Chardonnay erlaubte sie sich zur Feier des Tages.
    Inzwischen war das Wetter umgeschlagen, und Estelle kaufte sich rasch noch eine traditionelle Outdoorjacke, die sie vorher im Schaufenster entdeckt hatte und die auch nicht eben billig war. Der Portier des Kaufhauses begleitete sie mit einem riesigen Schirm hinaus und pfiff nach einem Taxi. Diese Aufmerksamkeit war ihr durchaus recht, denn der Himmel hing tief, es goss in Strömen, und den Blitzen nach zu urteilen, die über den Dächern zuckten, hätte man meinen können, die Götter nähmen ihr die Ausschweifungen übel. »Gummistiefel wären auch nicht schlecht«, murmelte sie, während das Wasser ungehindert durch ihre neuen Sandaletten floss. Gerade wollte Estelle das Taxi besteigen, da rempelte sie jemand an. Der Portier lieferte sich ein kurzes Gerangel mit dem Mann, in dessen Folge der Regenschirm den Besitzer wechselte. Nachdem der Fremde ein paar Worte in das Ohr des Portiers geflüstert hatte, gab dieser jeglichen Widerstand auf, nannte dem Fahrer ihre Adresse und rannte mit eingezogenem Kopf durch den Regen zurück auf seinen Posten.
    Ehe Estelle sich versah, saß sie inmitten ihrer Tüten im geräumigen Fond eines britischen Taxis, und neben ihr lümmelte der hinreißendste Elf, den sie je gesehen hatte. Nicht dass ihr schon viele männliche Feenwesen über den Weg gelaufen wären, genau genommen handelte es sich hier sogar um die erste Begegnung seit dem Tod ihrer Mutter mit einem ihrer im Verborgenen lebenden Verwandten. Trotzdem war sie überzeugt, dass er ein Elf sein musste. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte ihn überhaupt nicht spüren, und wenn nicht ein naher Angehöriger mit besonderen Fähigkeiten, wer sonst wäre in der Lage, sich ihrem seherischen Talent zu entziehen? Während sich das Auto durch den Feierabendverkehr quälte, suchte Estelle angestrengt nach geeigneten Worten. Unsicher riskierte sie einen Blick unter ihrer neuen Frisur hervor und erntete dafür ein freches Grinsen von dem ungebetenen Mitreisenden.
    Aber wenn er ein Gespenst war? Sie kannte allerdings keinen Geist, der tagsüber derart real zu wirken vermochte und zudem die Dreistigkeit besaß, mitten in der Stadt ein Taxi zu entern. Üblicherweise hausten diese armen Seelen in alten Gemäuern und manifestierten sich dort bestenfalls zu einer transparenten Erscheinung. Aber um diese auch sehen zu können, musste jemand schon ziemlich viel Talent oder Übung mitbringen. Estelles einschlägige Erfahrungen waren auch in diesem Bereich limitiert.
    Ebenso wie ihre Kontakte zu Blutsaugern. Diese beschränkten sich weitestgehend auf einige wenige Begegnungen mit ihrem »Schwager« Kieran. Ihn konnte sie nur »lesen«, wenn er ihr freiwillig einen Einblick in seine Gedanken erlaubte, dafür nahm
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