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Die sterblich Verliebten

Die sterblich Verliebten

Titel: Die sterblich Verliebten
Autoren: Javier Marías
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Atemstillstand und in kritischer Verfassung. Fünf Stunden rang er mit dem Tod, erlangte in keinem Augenblick das Bewusstsein wieder und »erlag in den frühen Abendstunden seinen Verletzungen, ohne dass die Ärzte ihn hätten retten können«.
    All diese Informationen waren über die zwei Tage verteilt, die auf den Mord folgten. Danach verschwand die Nachricht aus den Zeitungen, wie es heute die Regel ist: Die Leute wollen nicht mehr wissen, warum irgendetwas passiert ist, nur, dass es passierte und dass die Welt voller Leichtsinn, Gefahr, Bedrohung und Unglück ist, die unsereins nur streifen, dagegen die unachtsamen, vielleicht nicht auserwählten Mitmenschen ereilen und umbringen. Wir leben mühelos mit tausenderlei ungelösten Rätseln, die uns morgens zehn Minuten beschäftigen und dann vergessen werden, ohne Unbehagen, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Wir spüren die Notwendigkeit, uns in nichts mehr zu vertiefen, uns mit keinem Vorfall, keiner Geschichte länger aufzuhalten, unsere Aufmerksamkeit soll immer weiterhüpfen, sie will immer neues fremdes Unglück, als dächten wir bei jedem Einzelnen: ›Natürlich, wie grauenvoll. Weiter. Welchen Schrecken sind wir noch entkommen? Wir müssen uns täglich als Überlebende, als Unsterbliche fühlen, den anderen zum Trotz, also her mit neuen Gräueln, die gestrigen haben wir schon verbraucht.‹
    Seltsamerweise erfuhr man an diesen beiden Tagen wenig über den Toten selbst, nur, dass er Sohn einer der Gründer des bekannten Filmverleihs gewesen war und im Familienunternehmen gearbeitet hatte, fast schon ein kleines Imperium nach seinem konstanten Wachstum über Jahrzehnte hinweg, seiner vielfältigen Ausweitung, die sogar Billigfluggesellschaften einschloss. Eine Todesanzeige Devernes schien später niemand veröffentlicht zu haben, kein Wort des Gedenkens, der Erinnerung vonseiten eines Freundes, Bekannten oder Kollegen, keinerlei Lebensbild, das von seinem Charakter, seinen Verdiensten sprach, was ziemlich sonderbar war. Jeder wohlhabende Unternehmer, erst recht einer aus der Kinowelt, so wenig berühmt er auch sein mag, hat Kontakte zur Presse oder Freunde, die solche haben, und unschwer wird einer von ihnen mehr als willens sein, eine tief betroffene Todesanzeige als Hommage und Ehrung in eine Zeitung zu setzen, als könnte das den Verstorbenen ein wenig entschädigen oder als wäre ihr Ausbleiben ein zusätzlicher Affront (wie oft erfahren wir von jemandes Existenz erst, wenn oder gerade weil er zu existieren aufgehört hat).
    Erschienen war also nur das Foto, das ein äußerst flinker Reporter von ihm gemacht hatte, bevor man ihn wegtrug, als er am Boden lag und man ihm unter freiem Himmel Hilfe leistete. Zum Glück war es im Internet nicht gut zu erkennen, von schlechter Qualität und klein, denn dieses Foto empfand ich als eine bodenlose Gemeinheit einem Mann wie ihm gegenüber, immer so fröhlich, so tadellos gekleidet im Leben. Ich warf kaum einen Blick darauf, wollte es nicht, und die Zeitung hatte ich bereits weggeworfen, in der ich das größere damals flüchtig gesehen hatte, ohne zu merken, um wen es sich handelte, und ohne auch damals darauf verweilen zu wollen. Hätte ich gewusst, dass es kein vollkommen Unbekannter war, sondern ein Mensch, den ich mit Vergnügen, ja einer gewissen Dankbarkeit tagtäglich gesehen hatte, hätte ich der Versuchung, genauer hinzuschauen, nicht widerstehen können, hätte anschließend jedoch den Blick noch empörter, noch entsetzter abgewandt, als ich es bereits getan hatte, ohne ihn zu erkennen. Da wird einer nicht nur mitten auf der Straße hinterrücks auf brutalste Weise umgebracht, ohne derlei im Geringsten befürchtet zu haben, sondern gerade weil es mitten auf der Straße stattfindet – »in aller Öffentlichkeit«, wie man ehrfurchtsvoll und stumpfsinnig sagt –, nimmt man sich das Recht heraus, der ganzen Welt das infame Unheil vorzuführen, das ihm angetan wurde. Auf dem reduzierten Foto im Internet erkannte man ihn kaum oder nur, weil mir der Text dazu versicherte, dass dieser Tote oder künftige Tote Desvern war. Er wäre jedenfalls entsetzt darüber gewesen, zu erfahren oder zu sehen, wie er vorgeführt wurde, ohne Sakko, ohne Krawatte, nicht einmal mit Hemd oder mit offenem – das war nicht auszumachen, und wo waren seine Manschettenknöpfe hingekommen, wenn man es ihm ausgezogen hatte –, voller Schläuche, umringt von Sanitätern, die an ihm herumhantierten, die Wunden entblößt,
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