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Die steinerne Pforte

Die steinerne Pforte

Titel: Die steinerne Pforte
Autoren: Prevost Andre
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war noch da, er musste geträumt haben. Doch als er etwas stärker klopfte, klang es merkwürdig hohl. Hatte sein Vater hier eine Zwischenwand eingezogen? Um sie dann hinter dem Wandbehang verschwinden zu lassen? Aber was wollte er verstecken? Ein zweites Lager? Für besonders wertvolle Ausgaben?
    Samuel hob den schweren Stoff an und schlüpfte dahinter. Es war tatsächlich eine Wand, eine von diesen Gipskartonabtrennungen, die sich fast von allein aufbauen. Zwei Meter weiter rechts fühlte er unter seinen Händen plötzlich so etwas wie ein Scharnier: eine Tür. Mit klopfendem Herzen stieß er sie auf.
    »Papa?«
    Der Raum dahinter war nur von einem schwachen Nachtlicht beleuchtet und äußerst sparsam eingerichtet: ein Feldbett, ein Schemel, das war alles. In gewisser Weise war Sam erleichtert, dass sein Vater nicht plötzlich bewusstlos vor ihm lag. Oder noch schlimmer . . .
    Obwohl sich ihm mit einem Schlag tausend Fragen aufdrängten. Neben dem Feldbett lag ein großes Buch auf dem Boden. Er hielt es ins Licht: kein Autor, kein Titel, nur ein dicker roter Einband, abgeschabt und rissig. Er schlug eine Seite auf. Offenbar handelte es sich um ein geschichtliches Werk: Verbrechen und Folter unter der Herrschaft von Vlad Tepes. Auf der Doppelseite wurden verschiedene Folterinstrumente und -methoden beschrieben, die von einem gewissen Vlad Tepes im 19. Jahrhundert irgendwo in der Walachei – was für ein Name! – angewandt wurden. Das Buch war nicht sehr alt, gut hundert Jahre vielleicht, nach der Typografie und dem Druck zu urteilen. Sein Vater war zwar ein passionierter Historiker, aber dass er so weit ging und sich in diesem finsteren Loch einschloss, um von den Untaten eines blutrünstigen »Walachen« zu lesen!
    Sam griff nach der Taschenlampe, die an einem Haken baumelte, und ließ den Lichtkegel durch den Raum wandern. Nichts, bis auf einen grauen Brocken in einer Ecke: ein großer Stein, fünfzig Zentimeter hoch, nach oben leicht oval zulaufend. Bei näherer Untersuchung erinnerte er an eine Art Totem oder Voodoo-Stein, wie man ihn manchmal in Horrorfilmen sah. Meist ging für den, der ihn fand, ein schrecklicher Fluch von ihm aus. Auf der vorderen Seite war etwas eingeritzt: In der oberen Hälfte erkannte man das Bild einer Sonne – ein Ring mit einem kleineren Innenkreis und sechs nach unten auslaufende Strahlen. Etwa eine Handbreit über dem Boden gab es eine Vertiefung, die so groß war, dass eine Hand hineingreifen konnte. Es hätte ein altsteinzeitlicher Erdnussautomat sein können, nur ohne die Erdnüsse. Er wurde nicht schlau daraus. Oder sollte sein Vater in die Fänge irgendeiner Sekte geraten sein?
    Während Sam noch mit der Taschenlampe den Boden rund um den Stein absuchte, fiel sein Blick einige Zentimeter entfernt auf einen glänzenden Metallring. Er drehte und wendete ihn mehrere Male in seiner Handfläche: eine schmutzige Münze mit einem Loch in der Mitte, ein Motiv aus ineinander verschlungenen Linien und Zeichen, die an die arabische Schrift erinnerten. Aber aus welchem Land sie stammte, schwer zu sagen . . . Auf jeden Fall schien die Münze weder besonders alt noch wertvoll zu sein. Vielleicht war das sogenannte Totem in Wirklichkeit nur ein altes Spiel aus irgendeiner entlegenen Gegend? Man musste die Münze so werfen, dass sie entweder in der größten Vertiefung landete – was weniger Punkte brachte – oder in den Sonnenstrahlen – das zählte dann mehr. Wie aufregend!
    Doch sosehr er es versuchte, es wollte ihm nicht gelingen, die Münze in die eine oder andere Rinne gleiten zu lassen: Niemals blieb sie in der Einkerbung stecken, sondern purzelte immer wieder heraus. Die einzige Stelle, an der sie vielleicht halten würde . . . Ohne große Hoffnung platzierte er die Münze in die Mitte der Sonne: Sie passte genau und hielt, wie von einem unsichtbaren Magneten angezogen. »Gut«, sagte er sich, »immerhin einen Schritt weiter.« Kaum hatte er den Satz vollendet, vernahm er so etwas wie ein leises Brummen. Er presste sein Ohr an den Stein und spürte etwas wie ein entferntes, regelmäßiges Vibrieren. Und der Stein erschien ihm nicht mehr so kalt wie am Anfang. Alles nur Einbildung, sagte er sich. Oder doch nicht . . . der Stein schien etwas auszustrahlen. Wärme . . . Wärme und eine Art magnetische Anziehung. Er hatte sogar das Gefühl, dass der Fußboden um ihn herum anfing zu vibrieren und dass er nur seine Finger auf das warme Oval des Steins legen musste, um ein eigenartiges
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