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Die steinerne Pforte

Die steinerne Pforte

Titel: Die steinerne Pforte
Autoren: Prevost Andre
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Wolldecke. Dann wies er ihn an, bis zur Abendmahlzeit hier zu warten. Sam schloss aus seiner widerwilligen Art, dass er ebenso wie der Bucklige zu denjenigen gehörte, denen das plötzliche Auftauchen dieses Jungen-aus-dem-Nichts unheimlich war. Und in gewisser Hinsicht hatten sie ja auch nicht unrecht . . .
    Das einzige Fenster im Stall war mit einem Fensterladen verschlossen, doch Sam nutzte die Astlöcher im Holz, um das Kommen und Gehen der Brüder während der frühen Abendstunden zu beobachten. Er zählte etwa fünfzehn bis zwanzig Mönche unterschiedlichen Alters, außer dem Abt und der Bohnenstange waren alle von eher kleiner Statur. Alle schienen ihre Rolle genau zu kennen und hatten offensichtlich nicht das geringste Bedürfnis zu sprechen. Einige schleppten große Kübel und schwere Säcke, andere waren dabei, die Palisaden rundherum mit zusätzlichen Hölzern zu verstärken. Während andere in der Kirche ein und aus gingen, arbeitete ein Teil von ihnen in einem großen Haus gleich neben dem Glockenturm. Alles lief in vollkommenem Schweigen ab, abgesehen vom wohligen »Wutsch! Wutsch!« der Sandalen im Schlamm.
    Samuel wusste nicht mehr, was er denken sollte. Natürlich hatte er schon von einer Insel namens Iona gehört, irgendwo im Norden Kanadas, aber das lag nun wahrhaftig nicht gleich nebenan! Und was auch immer ihn auf diese Insel gebracht hatte, erklärte noch lange nicht das Rätsel dieses verrückten Klosters, geschweige denn, die dunklen Andeutungen des Abts: Wer waren diese weißen Fremdlinge? Wovor hatten diese Mönche so große Angst? Und vor allem: Wie kam es, dass Sam ihre merkwürdige Sprache verstand?
    Die Stalltür wurde aufgerissen.
    »Saum?«, flüsterte jemand. Er erkannte die Stimme der Bohnenstange. »Es ist Zeit zum Abendessen, beeil dich. Und denk daran: kein Wort!«
    Sam rappelte sich hoch und folgte ihm nach draußen ins Halbdunkel bis zu einem länglichen Gebäude, das an die Küche angeschlossen war: das Refektorium, der Speisesaal. Als er eintrat, drehten sich alle zu ihm um. Es waren doch mehr, als er geschätzt hatte, an die dreißig Mönche insgesamt, auf zwei lange Tische verteilt. Der Abt saß am Ende, allein, während ein Mönch an einem Stehpult soeben ein riesiges Buch aufschlug. Keiner der Brüder sagte ein Wort, doch sie räusperten sich die ganze Zeit auf so eigenartige Weise, dass man es für einen Geheimcode hätte halten können. Der Bucklige, der rechts auf einem der ersten Plätze saß, warf ihm einen giftigen Blick zu. Bruder Ranald führte Sam zur linken Bank, und sobald sie Platz genommen hatten, begann der Mönch am Stehpult mit der Lektüre. Es musste sich um einen lateinischen Text handeln, aber im Gegensatz zum »Iona-Elfisch« verstand Sam kein einziges Wort. Der Simultanübersetzer, der neuerdings in seinem Kopf eingepflanzt war, konnte anscheinend nur zwei Sprachen gleichzeitig bewältigen . . .
    Der Küchenmönch erschien mit einem schweren Kochtopf. Er machte die Runde und füllte die Schalen eine nach der anderen mit einer intensiv duftenden Suppe aus schwärzlichen Kräutern, die wie Haarbüschel aussahen. Zu Hause aß Samuel niemals Suppe, aus Prinzip. Doch einerseits war er ziemlich ausgehungert und andererseits fühlte er sich von den Blicken aus dreißig Augenpaaren durchbohrt. Also tauchte er mutig seinen Löffel in die dampfende Flüssigkeit, schöpfte ein gutes Büschel Grünzeug hervor und schluckte alles hinunter. Es bekam ihm schlecht. . . Zuerst verbrannte er sich den Gaumen – Verbrennungen zweiten Grades mindestens – dann breitete sich ein unglaublich bitterer Geschmack in seinem Mund aus, wie ein Konzentrat aus dem schlimmsten Kohl, den er je gegessen hatte. Natürlich konnte er unmöglich alles wieder auf den Teller spucken. Also riss er sich zusammen, so gut es ging, spürte schon die Tränen in den Augen und brachte alles hinunter, indem er sich die Nase zuhielt, was eine Verbrennung dritten Grades der Speiseröhre zur Folge hatte. Als er etwas Kaltes hinterher spülen wollte und zu dem Trinkbecher vor seinem Teller griff, hatte er auch nicht mehr Glück: ein ungenießbares alkoholisches Gebräu, das nach Kuhmist schmeckte und von dem er sofort Schluckauf bekam. Die Bohnenstange versetzte ihm unter dem Tisch einen diskreten Fußtritt, und Sam beschloss, die Suppe nicht wieder anzurühren. Danach probierte er nur noch ein Stückchen Speck – ein kleines Eckchen, das er mit viel Mühe aus einer furchtbar fetten Scheibe
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