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Die Statisten - Roman

Die Statisten - Roman

Titel: Die Statisten - Roman
Autoren: A1 Verlag GmbH
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komm.“
    Parvati und ihr Sohn beobachteten gerade einen Straßenköter, der an der Ecke des Chawl stand und sich mit hektischen, krampfhaften Bewegungen des linken Beins das Ohr kratzte. Als sie endlich Victor bemerkte, wunderte sie sich über seine Gebärden.
    â€žKomm, komm, Baba, komm.“
    Parvati freute sich über die Aufmerksamkeit, die ihrem Söhnchen zuteil wurde. Sie fasste Ram mit Daumen und Zeigefinger ans Kinn und versuchte, seinen Blick auf Victor zu lenken. Aber der Junge starrte weiter gebannt auf den verwahrlosten Köter. Als Parvati Ram vom rechten auf den linken Arm nahm, damit er Victor vielleicht eher sähe, drückten sich ihre Brüste weich gegen das Kind. Als sie sich dann, plötzlich befreit, vor den Augen Victors wieder aufrichteten, meinte er, Zeuge eines kleinen Wunders zu werden. Er winkte dem Bübchen mit erneutem Elan zu.
    â€žKomm, komm.“
    Endlich bekam Parvatis Sohn mit, dass Victor ihm zuwinkte. An seinem Mund erschienen Bläschen freudiger Begeisterung.
    Er quietschte und zog an Parvatis Ohren. Ihr Sohn Ram hielt sie ganz schön auf Trab, aber insgeheim war sie stolz – auch wenn seine Mätzchen sie anstrengten –, dass er schon so früh kaum zu bändigen war. Am oberen Rand von Victors Gesichtsfeld, über Parvatis Kopf, bewegte sich ein Schatten. Er sah hinauf. Seine eigene Frau Violet stand mit ihrer Tochter Pieta auf dem Balkon des nächsthöheren Stockwerks. In Violets Augen erschien eine seltsame Mischung aus Abscheu, Neid und Wut. Victors Hände fielen hinunter und hingen wieder schlaff an ihm herab. Und die zwei noch verbleibenden „Komm-komm“ brachte er nur noch halbherzig heraus.
    Der kleine Junge hüpfte aufgeregt in Parvatis Armen. Ja, ja, ja, er wollte mit Victor spielen, wollte sehen, wie der Hund sich kratzte, dem kabaddi -Spiel zuschauen, auf einen Doppeldeckerbus steigen und ganz vorne sitzen, mit dem Wind in den Augen und Haaren. Er streckte die Arme aus und stürzte sich vornüber.
    Alle, die Victor in diesem Moment sahen, erzählten später, seine Augen hätten geradezu gebrannt, so als hätten sie Feuer gefangen und als loderten Flammen nach allen Seiten. Immer wenn Parvati sich im Lauf der folgenden Jahre an den Zwischenfall erinnerte, enthielt ihr Kommentar – wie es sich für den Ernst der Lage geziemte – zwei englische Wörter: „heart“ und „halt“. Mazhe heart halt zale. Aber trotz ihres Herzstillstands besaß sie immerhin noch genügend Geistesgegenwart, um einen übermenschlichen Schrei auszustoßen. Noch heute zeigen die Bewohner des Chawls gegenüber auf einen Riss in der felsenfesten Wand ihres Gebäudes und erklären einem, das sei die „Parvati-Spalte“.
    Parvatis Sohn ging über Bord, und mit ihm fast drei Viertel von Parvati selber, die sich lebensgefährlich weit über die Balkonbrüstung reckte. Victors Hände schossen wieder in die Höhe. In diesem Moment hatte er eine Vision vom Jesuskind. Die Sonne stand hinter dem Jungen wie ein sternenfunkelnder Strahlenkranz. Er hatte den Kopf in den Nacken geworfen und lachte. Seine Arme waren weit ausgebreitet. Wie kann jemand, fragte sich Victor, wie kann jemand außer dem Gotteskind einem anderen so rückhaltlos vertrauen?
    Niemand hätte mit Gewissheit sagen können, ob Victors Hände sich nach Parvatis hirnlosem Sohn oder nach Parvati selbst emporreckten. Und später erwies es sich als ein wenig schwierig, Victor zu diesem Thema zu befragen. Trotz des erschütternden Aufpralls ließ Victor den Jungen nicht los. Seine Hände hatten Ram unter den Achselhöhlen gepackt. Er tätschelte dem Jungen den Rücken und setzte ihn behutsam auf den Boden. Dann sackte er, die Augen zum Himmel gewandt, neben dem Kind zusammen und streckte sich ruhig auf der Straße aus.
    Im Sturzflug, Stufen überspringend, sich mit den Zehen in ihrem Sari-Unterrock verfangend, um jeden Treppenabsatz fliegend, das offene Haar wie eine flatternde Mähne hinter sich herziehend, kam Parvati-bai aus dem Chawl gerannt. Ihr Sohn spielte gerade mit Victors Hemdkragen. Sie hob ihn auf und tastete ihn überall ab. Dann küsste sie ihn fünfhundert Mal an fünfhundert verschiedenen Stellen. Ihr Blick fiel auf Victor. Sein Mund stand noch immer ein wenig offen, und die verwunderte Miene war ebenfalls nicht vollends gewichen. Das Söhnchen fest an die Brust
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