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Die Stadt und die Stadt

Die Stadt und die Stadt

Titel: Die Stadt und die Stadt
Autoren: China Miéville
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Bevölkerungsanteil der Stadt nicht unerheblich anschwoll, hatte man Ébru, das uralte Besź-Wort für »Jude«, auf die neuen Immigranten ausgeweitet. Außerdem ließen die muslimischen Zuwanderer sich in Besźels ehemaligem Juden-Ghetto nieder.
    Schon vor der Ankunft der Flüchtlinge pflegten die beiden traditionellen Minderheiten Besźels sich zu verbünden, in guten wie in schlechten Zeiten, abhängig von der jeweiligen politischen Situation. Wenige Bürger sind sich bewusst, dass unsere volkstümlichen Witze über die Dummheit des mittleren Kindes ihren Ursprung in einem jahrhundertealten humorigen Dialog zwischen Großrabbiner und Chef-Imam haben, in dem sie spitzzüngig über den ungehobelten Eifer der orthodoxen Kirche von Besźel herziehen. Sie besaß, stimmten sie überein, weder die Weisheit der ältesten abrahamischen Religion noch die Vitalität der jüngsten.
    Fast seit den Anfängen von Besźel war das DöplirCaffé das Paradebeispiel für interkulturelle Harmonie: ein muslimisches und ein jüdisches Kaffeehaus Seite an Seite, jedes mit eigener Theke und Küche, halal und koscher. Sie teilten sich einen Namen, ein Schild und den Gastraum. Die Zwischenwand wurde entfernt. Gemischte Gruppen kamen, man begrüßte die beiden Inhaber, saß zusammen, trennte sich nur, um auf der jeweils relevanten Seite die erlaubten Speisen zu ordern, beziehungsweise im Fall von Freidenkern ostentativ die der »anderen«. Ob das DöplirCaffé ein Etablissement war oder zwei, hing von der Sichtweise ab. Für den Beamten von der Einkommenssteuerstelle beim Finanzamt war es eins.
    Das Ghetto von Besźel war heute lediglich noch kenntlich durch seine Architektur und keine politische Enklave mehr, heruntergekommene alte Häuser mit neuem Schick, eingezwängt zwischen sehr andersgestaltigen Fremdräumen. Trotzdem, das war nur die Stadt, keine Allegorie, und man durfte annehmen, dass Hamd Hamzinic bei seinem Studium mancher Stein in den Weg gelegt worden war. Meine Meinung über Shukman besserte sich ein wenig: Offenbar sah Hamzinic wenigstens an seinem Arbeitsplatz keine Veranlassung, ein Hehl aus seiner Religionszugehörigkeit zu machen.
    Shukman deckte Fulana nicht auf. Sie ruhte zwischen uns. Sie hatten etwas mit ihr angestellt, denn sie lag wie schlafend ausgestreckt da, mit ihrem Schicksal versöhnt.
    »Ich habe Ihnen den Bericht gemailt«, begann Shukman. »Eine Frau von etwa vier- oder fünfundzwanzig Jahren. Guter Allgemeinzustand, bis auf die Tatsache, dass sie tot ist. Zeitpunkt des Todes gegen Mitte der vorletzten Nacht, mit etwas Spielraum natürlich. Todesursache Stiche in die Brust, vier insgesamt, von denen einer das Herz durchbohrt hat. Eine schmale, spitze Klinge. Sie hat außerdem eine hässliche Kopfverletzung und eine große Anzahl eigentümlicher Schürfwunden.« Ich schaute ihn an. »Teils unter dem Haar verborgen.« In Zeitlupe führte er die Bewegung vor. »Ein Schlag gegen die linke Kopfseite. Ich würde sagen, sie hat das Bewusstsein verloren oder war zumindest benommen und wehrlos, als man ihr die Stiche in die Brust versetzte, den Coup de grâce.«
    »Mit was wurde sie geschlagen?«
    »Mit einem schweren, stumpfen Gegenstand. Könnte eine Faust gewesen sein, falls sie groß war, die Faust, aber ich halte es nicht für sehr wahrscheinlich.« Er lüpfte eine Ecke des Tuchs, entblößte geschickt die in Rede stehende, von einem großflächigen Bluterguss entstellte Kopfseite. »Et voilà!« Mit einer Handbewegung forderte er mich auf, mir eine bestimmte Stelle auf ihrer rasierten Kopfhaut anzusehen.
    Ich bückte mich in die Schwaden von Formaldehyd. Zwischen den brünetten Stoppeln entdeckte ich eine Vielzahl winziger, verschorfter Einstiche.
    »Was ist das?«
    »Ich weiß es nicht«, gestand Shukman. »Sie sind nicht tief. Vielleicht ist sie auf etwas gefallen, was diese Verletzungen verursacht hat.« Die Wunden waren etwa so groß wie von Pieksern mit einem spitzen Bleistift, verteilt auf einer etwa handbreiten Fläche. Stellenweise bildeten sie mehrere Millimeter lange Linien, in der Mitte tiefer als zu den Enden hin, wo sie verschwanden.
    »Hinweise auf Geschlechtsverkehr?«
    »Nicht in letzter Zeit. Falls sie wirklich eine Prostituierte gewesen ist, hat sie sich womöglich geweigert, eine bestimmte Leistung zu erbringen, und das hat sie das Leben gekostet.« Ich nickte. Er wartete. »Wir haben sie gewaschen«, bemerkte er schließlich. »Sie war von Kopf bis Fuß bedeckt mit Erde, Staub, Grasflecken,
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