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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman
Autoren: Andreas Brandhorst
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bevor Louise ihn daran hindern konnte. Am Treppenabsatz zögerte er kurz. Es war kälter geworden, so kalt, dass sein Atem kondensierte, und die grauweiße Fahne vor den Lippen schien den Nebel herbeizulocken.
Er glitt im Treppenhaus empor, strich wie Rauch über die Stufen, und in ihm bewegte sich etwas: ein dunkler Schemen im dritten Stock, ein seltsames Etwas, verborgen in den Schwaden.
    »Ben!«
    Er drehte sich um. Louise stand da, schwang ihren Rucksack und traf ihn damit am Kopf, mit solcher Wucht, dass Benjamin zur Wand taumelte. Neue Benommenheit erfasste ihn.
    »Du verdammter Idiot!«, sagte Louise, holte mit der Faust aus und traf ihn am Unterkiefer.
    Ihm schwanden die Sinne.

    Benjamin Harthman, gestorben an seinem vierzigsten Geburtstag, träumte vom Leben, und davon, wie es endete. Neben ihm im Wagen saß Kattrin, der er ein neues Leben versprochen hatte, das an diesem Tag beginnen sollte, ohne all die Fehler des alten, und er sah ihr hoffnungsvolles Lächeln. Eine Sekunde später verschwand es, und ein Krachen übertönte das Brummen des Motors. Der große Lastwagen schoss auf sie zu, ein dunkler Moloch, der sich anschickte, sie unter sich zu zermalmen. Benjamin riss das Steuer herum, aber es war zu spät, ein Ausweichen unmöglich. Und dann starb er dort auf der Straße, nicht sofort wie Kattrin, ein paar Minuten später.
    Er starb auch, als sich der Zeigefinger des Mannes, der die Pistole auf ihn gerichtet hatte, um den Abzug krümmte. Auch hier krachte es, aber es raste kein Truck heran, sondern eine Kugel. Sie bohrte sich ihm in die Stirn, zerfetzte einen Teil des Gehirns und löschte alle Gedanken aus.
    Er schwamm, drehte den Kopf von einer Seite zur anderen
und sah überall nur Wasser, das bis zum Horizont reichte. Die Oberfläche war glatt und unbewegt, wie die eines Sees bei Windstille, aber weit und breit gab es kein Boot oder Schiff, nichts, an dem er sich festhalten konnte. Zwei Stunden später, als es dunkel zu werden begann, erlahmten seine Kräfte. Er sank, schluckte Wasser …
    Aber es war kein Wasser, sondern Sand, heiß und trocken, denn er lag am Fuß einer Düne, die Teil einer endlosen Wüste war. Er sah seine Hand, die Haut rissig und voller Blasen, direkt vor den Augen. Die Finger hatten Zeichen im Sand hinterlassen, und er versuchte sie zu lesen, aber der Wind deckte sie zu, machte die von ihm selbst geschriebenen Worte unleserlich. Er wusste, dass sie wichtig waren, aber er konnte sie nicht entziffern. Seine Lider senkten sich …
    Benjamin riss die Augen auf und stellte fest, dass er vom Dach eines hohen Gebäudes fiel, aber nicht schnell, sondern langsam wie ein halb vom Wind getragenes Blatt, vorbei an Fenstern, hinter denen Gesichter ihn anstarrten, manche erschrocken und andere mit hämischer Freude. Pfähle mit Metallspitzen ragten vom Boden auf, mindestens ein Dutzend, und etwas hielt ihn einige Meter über ihnen fest. Ein Fenster öffnete sich, und ein Mann, den er nicht kannte, streckte den Arm hinaus, in der Hand einen Zettel. Worte standen darauf, und Benjamin wusste, dass es die gleichen Worte waren, die er selbst in den Sand am Fuß einer Düne geschrieben hatte. So wie der Mann den Zettel hielt, konnte er nur zwei von ihnen lesen. Sie lauteten: Du musst … Benjamin wollte nach dem Zettel greifen, doch plötzlich fiel er wieder, und die stählernen Spitzen der Pfähle bohrten sich ihm in den Leib, einer von ihnen mitten ins Herz.

    Benjamin schnappte nach Luft und hob ruckartig den Kopf. Er lag in einem dunklen Zimmer, und jemand drückte ihm die Hand auf die Brust.
    »Dreh nicht wieder durch.« Louise sprach leise; ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Der Nebel ist noch nie so hoch gestiegen. Die Tür hat einen Stahlkern; so einfach lässt sie sich nicht aufbrechen.«
    Benjamin merkte, dass er auf einem Bett lag. Er tastete nach seinem schmerzenden Kiefer. »Du hast mich niedergeschlagen!«
    »Klar habe ich das, du Narr! Du warst auf dem besten Weg, hinunter in den Nebel zu laufen.«
    Die Laterne stand in der Ecke, aber ihre Flamme war heruntergedreht und spendete kaum Licht. Benjamin sah nicht mehr als vage Umrisse, auch von der Frau neben ihm auf der Matratze. Im anderen Zimmer war es ebenfalls dunkel; offenbar hatte Louise den Rollladen heruntergelassen.
    Ein dumpfes Knarren kam aus der Finsternis, wie von einer Diele, die unter einem schweren Schritt ächzte. Wenige Sekunden später kratzte es an der Tür; es klang, als würde ein Fingernagel über
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