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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman
Autoren: Andreas Brandhorst
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Schlauchverbindung. Vom Kühlschrank neben dem Durchgang zum größtenteils im Dunkeln liegenden Schlafzimmer kam kein Geräusch.
    »Hier gibt es keinen Strom«, sagte Louise, als hätte sie seine Gedanken erraten. »Nie«, fügte sie hinzu, nahm den Rucksack ab und legte ihn auf den Tisch. »Nicht einmal während der Elektrostunden im Zentrum.« Sie deutete zum Herd mit der kleinen Gasflasche. »Aber ich kann uns Kaffee kochen, wenn du möchtest. Magst du Kaffee?«
    Benjamin nickte benommen.
    »Doch zuerst …« Louise ging zum großen Fenster und zog den Rollladen hoch. »Sieh sie dir an, Ben. Das ist deine neue Heimat. Unsere Stadt.«
    Benjamin trat näher und sah durchs schmutzige Glas. Pastellfarbene Wohn- und Geschäftshäuser säumten eine breite Straße, durch die Nebel strömte wie ein träger grauweißer Fluss. Von den Türen war nichts mehr zu sehen; dichter Dunst wogte bereits über die Fenster der unteren Stockwerke und kletterte weiter an den Mauern empor.
    »Er sieht lebendig aus«, sagte Benjamin. »Der Nebel. Er bewegt sich wie ein lebendiges Wesen.«
    »Die Kreaturen darin sind zweifellos lebendig.« Louise wandte sich ab und ging zum Herd. »Zu lebendig, wenn du mich fragst.«
    Einige Hundert Meter die Straße hinunter wurde der Nebel so dicht, dass sich die Umrisse der Gebäude darin verloren. Die Welt schien dort zu enden, in einer Art White-out, das keinen Unterschied mehr machte zwischen Himmel und Erde, beides miteinander verschmelzen ließ. Weiter auf der linken Seite ragten die roten und braunen Dächer kleinerer
Häuser aus dem Nebel, der anzuschwellen schien wie ein Meer bei Flut.
    »Er steigt immer höher«, sagte Benjamin.
    »Bisher hat er noch nie den sechsten Stock erreicht. Wir sollten hier sicher sein.«
    Weiter links erstreckte sich die Stadt über die Hänge eines Hügels, und dahinter ragten in vagem Dunst weitere Hügel auf, die Fassaden der dortigen Wohnhäuser lindgrün und ockerfarben. Dächer schimmerten silbern und weiß im Licht einer Sonne, die irgendwie seltsam wirkte, fand Benjamin. Er blinzelte in ihrem hellen Schein, doch dann schob sich eine Wolke vor die Sonne und entzog sie seinen Blicken; eine Wolke, die ihm ebenfalls sonderbar erschien, denn sie war zu gleichmäßig geformt, ein Oval ohne Fransen, weißgrau wie der Nebel, der inzwischen auch die roten und braunen Dächer verschlungen hatte.
    »Mit der Sonne stimmt was nicht«, sagte er. »Und die Wolken …«
    »Hast du das gehört?« Louise stand völlig reglos am Herd, in der einen Hand eine italienische Moca , in der anderen einen Anzünder. Es war so still, dass Benjamin das leise Zischen des aus den Herddüsen strömendes Gases hörte. Als es still blieb, schüttelte Louise den Kopf, entzündete das Gas und setzte das antiquierte Gerät auf die Flamme.
    Benjamin hatte sich umgedreht und machte einen Schritt, mit Beinen, die er eigentlich gar nicht mehr haben sollte, und plötzlich zitterte er wieder. Auf einen Schlag kehrte alles zurück. »Kattrin …« Der Frau ist nicht mehr zu helfen. Aber auch ihm war nicht mehr zu helfen gewesen, und jetzt stand er hier, an diesem Fenster.

    »Ben?« Louise musterte ihn besorgt. »Setz dich, Ben. Du hast den Schock noch nicht überwunden.«
    Stocksteif stand er da und fühlte, wie sein Herz immer schneller schlug. »Ich lebe.«
    »Ja und nein, Ben. Du bist gestorben, aber etwas brachte dich hierher, wie auch mich und die anderen.«
    »Vielleicht ist sie ebenfalls hier! Kattrin! Sie war bei mir, als … es passierte. Vielleicht hat sie ebenfalls überlebt.«
    Louise kam näher. »Du hast nicht überlebt, Ben«, sagte sie sanft. »Das ist die große Illusion, von der du dich befreien musst. Du bist hier, unversehrt. Du atmest, dein Herz schlägt, du denkst und fühlst, aber du lebst nicht mehr. Zumindest nicht so wie vorher.«
    Benjamin starrte sie an, aber er sah nicht Louise, sondern den Truck, der plötzlich die Leitplanke durchbrach.
    »Wir müssen sie suchen!«, stieß Benjamin hervor. »Sie ist irgendwo dort draußen!«
    Er hatte die Tür erreicht und den ersten Riegel zurückgeschoben, als Louise plötzlich neben ihm erschien und ihn festzuhalten versuchte.
    »Bist du übergeschnappt? Hast du den Nebel nicht gesehen? Du kannst jetzt nicht raus.«
    Benjamin stieß sie beiseite. »Sie ist dort draußen! Im Nebel könnte sie sich verlaufen. Wer weiß, ob ich sie dann jemals finde.«
    Der zweite Riegel, dann auch der dritte. Benjamin riss die Tür auf und war im Flur,
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