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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman
Autoren: Andreas Brandhorst
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junge Mann konnte glaubhaft machen, dass es sich um einen Unfall handelte«, fuhr Laurentius fort. »Es gab keine Zeugen, die ihn belastet hätten. Du hast damals nicht gegen ihn ausgesagt, Benjamin. Wie dem auch sei: Wenige Tage später wurde er tot aufgefunden. Erwürgt. Mit einer Garrotte, wie die gerichtsmedizinische Untersuchung ergab. Das war der Anfang.«
    Der Anfang, dachte Ben. Der Anfang vom Ende.
    »Das alte Trauma erwachte wieder, stärker als jemals zuvor«, sagte Laurentius. »Etwas Dunkles wuchs in dir. In den folgenden fünfzehn Jahren hast du einundzwanzig Menschen umgebracht.«
    An einer Stelle bekam die Barriere aus Taubheit einen Riss, und Schmerz kroch hindurch. Benjamin stöhnte.

    »Du warst krank, mein Junge, sehr krank. Schließlich wurdest du gefasst, verurteilt und ins Gefängnis gesteckt. Townsend gehörte zu den Psychiatern, die mit deinem Fall beschäftigt waren, und nach einigen Jahren schlug er eine neue Behandlungsmethode vor. Er trennte den kranken Mörder in dir vom anderen Benjamin, der noch immer existierte, und er ersetzte die alten Erinnerungen durch neue.«
    »Es gelang ihm nicht«, sagte Benjamin. »Die alten Erinnerungen blieben in mir. Er veränderte sie nur ein wenig.«
    »Er brachte alles durcheinander.«
    »Ja. Und der Mörder … Er existierte noch immer. Er lag die ganze Zeit über auf der Lauer und wartete auf eine günstige Gelegenheit.«
    »Im Institut lernte Benjamin Françoise kennen, die Traurige, wie er sie nannte«, sagte Laurentius, und sein Blick ging kurz zu Louise. »Er lernte sie lieben und erfuhr, dass Townsend sie missbrauchte. Und dann beging sie Selbstmord. Für Benjamin war es eine Wiederholung des Traumas. Erst die geliebte Mutter und dann diese Frau, die er lieb gewonnen hatte. Es war zu viel für ihn. Der Mörder in ihm übernahm die Regie.«
    »Ich verstehe«, sagte Louise langsam, ihre Hand noch immer auf Benjamins Arm. »Er wollte die Traurige rächen.«
    Laurentius nickte. »So wie er zuvor mit den einundzwanzig Morden versuchte seine Mutter zu rächen. Benjamin schmiedete einen Plan, brachte Townsend um und ließ das ganze Institut in Flammen aufgehen. Falls es dich interessiert, mein Junge: Muriel kam mit dem Leben davon, weil sie im Stall bei den Pferden war. Aber alle anderen starben.«
    »Und kamen hierher in die Stadt.«

    »Ja. Du hast sie praktisch neu bevölkert. Mit den Toten aus dem Institut und den Seelen anderer Gestorbener, die mit ihnen in Verbindung standen.«
    »Die Seelen sind miteinander verbunden«, murmelte Benjamin.
    »Das sind sie, ja. Der Laurentius in der Stadt hat dich darauf hingewiesen.« Diesmal lächelte der Alte wieder und betätigte einen Hebel. Das Hintergrundsummen veränderte sich ein wenig, und die Buchstaben und Zahlen kehrten in die Lichter zurück, aus denen sie gekommen waren. »Aber als dein Leben zu Ende ging, Benjamin … Die Behandlung war nicht ohne Folgen für dich. Du hast versucht, an deinen echten Erinnerungen festzuhalten.«
    »Du hast gesagt, dass sich Benjamins dunkle Hälfte im Augenblick des Todes von ihm getrennt hat«, wandte sich Louise an Laurentius.
    »Die Maschine hat sie von ihm getrennt, nach Townsends Vorarbeit.« Laurentius holte einen Apfel hervor und biss hinein. »Möchte jemand von euch? Nein? Nun, der dunkle Bursche irrte jahrelang durchs Labyrinth, durchbrach Mauern und suchte nach Benjamin.«
    »Deshalb begann er damit, Menschen aus der Stadt zu entführen? «, fragte Louise. »Weil er nach Benjamin suchte?«
    »Ja.«
    »Und warum wurden die Entführten zu Gläsernen? Einige von ihnen sind zerbrochen.« Bei diesen Worten verzog Louise das Gesicht.
    Laurentius kaute und schluckte, während die letzten Buchstaben und Zahlen verschwanden. »Sie wurden zu Gläsernen, weil die Stadt aus dem Gleichgewicht geriet. Was die
Zerbrochenen betrifft … Ich nehme an, ihre Seelen sind auf Reisen.«
    »Das nimmst du an?«, fragte Benjamin. »Und wohin reisen sie?«
    »Ich glaube, ich habe bereits darauf hingewiesen, dass ich nicht alles weiß, mein Junge. Ich bin nur ein einfacher Aufseher.«
    Benjamin stand noch immer mit hängenden Schultern da, aber seine Arme waren nicht mehr ganz so schwer, und das Zittern hatte aufgehört.
    »Ich bin ein Mörder«, wiederholte er leise.
    »Du warst ein Mörder«, betonte Laurentius, verspeiste die Reste des Apfels und leckte sich die Finger ab. »Und Louise war eine Hure, die sich schließlich das Leben nahm. Und Hannibal war ein armer Irrer, der
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