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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman
Autoren: Andreas Brandhorst
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herumspielen. Ihr wisst nicht, wozu sie dienen.«
    »Weißt du es?«, fragte Louise verwundert und sah sich um.
»Es sind so viele. Und nirgends gibt es Beschriftungen oder irgendwelche Markierungen.«
    »Jeder Hebel hat eine ganz bestimmte Funktion«, sagte Laurentius. »Und diese Funktion lässt sich modifizieren und variieren, wenn auch andere Hebel betätigt werden. Wie viele Kombinationen sind mit neuntausendvierhunderteinundzwanzig Hebeln möglich, Benjamin?«
    »Ich habe keine Ahnung.«
    »Und offenbar hast du auch keine Lust zu einem kleinen Rechenexperiment. Na ja, macht nichts. Begnügen wir uns mit der Feststellung, dass die Anzahl der Kombinationen ziemlich groß ist und dass der Aufseher sie alle im Kopf haben muss.«
    Laurentius trat vor und drückte einen vor ihm aufragenden Hebel zwanzig oder dreißig Zentimeter weit nach unten.
    Es klickte irgendwo in oder hinter dem Wald der Hebel, und auf einmal funkelte es in der Luft, als hätten Staubpartikel, zu klein für das Auge, plötzlich zu leuchten begonnen. Benjamin fühlte sich an das Glitzern erinnert, das ihm wie Feenstaub erschienen war und das er, in einer Vision, überall in der Stadt gesehen hatte, insbesondere dort, wo Waffen verschwunden waren. Ein Rauschen ging durch den Raum – wie von Wind in hohen Baumwipfeln, dachte Benjamin –, und aus dem myriadenfachen Leuchten bildeten sich vertraute Buchstaben und andere Schriftzeichen, Schnörkel und Linien, die erst dann einen Sinn ergaben, wenn sich Benjamin auf sie konzentrierte.
    »Bausteine für Worte«, verkündete Laurentius und stand mit hoch erhobenen Armen da. Die Buchstaben und Schriftzeichen
umschwirrten ihn wie Vögel. »Und es sind besondere Worte. Sie haben die Maschine geschaffen.«
    In Benjamin wurde die Erinnerung an andere Worte wach, die er vor langer Zeit gelesen hatte. »Die Schöpfung ist ein Buch«, murmelte er. »Wer’s weislich lesen kann, dem wird darin gar fein der Schöpfer kundgetan.«
    Laurentius nickte und griff nach einem Hebel, dessen kupferroter Knauf aufleuchtete, als er ihn berührte. Das Glitzern veränderte sich, und die fliegenden Buchstaben und Symbole verharrten in der Luft. Zahlen erschienen zwischen ihnen und reihten sich zu komplexen Formeln aneinander.
    Louise stand staunend da, die halb leere Flasche Medizin in der Hand.
    »Die Worte der Schöpfung«, sagte Laurentius. »Und die Zahlen der Mathematik, von Galileo einst ›Sprache der Natur‹ genannt. Sie sind die Basis. Hier seht ihr, welche Macht die Maschine geschaffen hat, und die Maschine schuf die Stadt.«
    »Könnte sie uns ins Leben zurückbringen?«, fragte Louise plötzlich. »Ist sie mächtig genug?«
    Laurentius richtete einen fast traurigen Blick auf sie. »Nein, mein Kind. Die Barriere zwischen Leben und Tod lässt sich nur von einer Seite durchschreiten. Es gibt kein Zurück.« Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Bedauerst du jetzt, dir das Leben genommen zu haben?«
    Louise seufzte, setzte die Flasche an die Lippen und stärkte sich mit einem Schluck Medizin, ohne Antwort zu geben.
    »Benjamin? Was ist mit dir?«, fragte Laurentius. »Du wirkst ergriffen.«
    Benjamin atmete tief durch, und wieder fühlte er Worte
auf der Zunge, die von jemand anderem stammten. »Tiefheiliger Schauer mich durchweht: Es weiht mich der Schöpfung Majestät. Ich sauge den Odem der Gottheit ein, eins bin ich mit dem allewigen Sein.«
    »Das stammt aus der Frühlingsandacht von Wilhelm Arent, nicht wahr?«
    »Ja«, murmelte Benjamin, horchte in sich hinein und hörte Erinnerungsstimmen flüstern. »Ja, ich glaube schon.«
    »Du glaubst es nicht, du weißt es. Du hast damals Literatur studiert, nicht wahr? Bevor es geschah. Bevor sich etwas in dir veränderte. Meinst du nicht, dass es Zeit wird, dich an alles zu erinnern? Wie lauten die Fragen, die du bisher nicht gestellt hast? Soll ich sie für dich formulieren?«
    Benjamin stand mit hängenden Schultern da, umgeben von den Worten und Zahlen der Maschine, die Arme sonderbar schwer, als hinge das Gewicht seiner bleiernen Vergangenheit an ihnen.
    »Eine von ihnen lautet: Wer oder was ist das große dunkle Geschöpf, das sich im Augenblick deines Todes von dir trennte? Besser gesagt: Welcher Teil von dir ist es?«
    »Und warum hat das Wesen Menschen aus der Stadt entführt und in Gläserne verwandelt?«, warf Louise ein.
    »Die wichtigste Frage lautet vermutlich: Wer bist du gewesen, bevor du erst ins Gefängnis und dann ins Institut kamst? Nun, Benjamin?
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