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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman
Autoren: Andreas Brandhorst
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sind die zehn Kilometer langen Pendel der Kohärenz«, sagte Laurentius, und in seiner Stimme erklang unüberhörbarer
Stolz. »Hier trifft die Maschine ihre Entscheidungen. « Er beobachtete die Pendel mit Kennerblick. »Sie sind schon etwas langsamer geworden. Was vermutlich bedeutet, dass die Stadt zur Ruhe kommt. Die Anomalie ist aus ihr verschwunden.«
    »Wie können Zahnräder eine Stadt erschaffen und dabei die Erinnerungen von Toten als Blaupausen benutzen?«, fragte Benjamin langsam.
    »Dies hier ist gewissermaßen der Antrieb der Jenseitsmaschine«, erklärte Laurentius. »Ihr Motor. Ich zeige euch gleich, wo die Stadt erschaffen wird. Aber vorher … Seht euch das Geländer an.«
    Es schien aus Metall zu bestehen, aus ineinander verschlungenen schmiedeeisernen Teilen. Als sich Benjamin noch etwas mehr darauf konzentrierte, gerieten einige Teile in Bewegung und entpuppten sich als umeinander gewundene Schlangen. Instinktiv wich er einen Schritt zurück, und sofort hörten die Bewegungen auf.
    »Hast du das gesehen?«, fragte er Louise.
    »Die Schlangen?« Sie trank einen Schluck Medizin. »Ja, ich denke schon.« Sie bot ihm die Flasche an.
    Er trank ebenfalls und gab die Flasche zurück. Wenn der Alkohol und die Apfelkerne auf ihn wirkten, so merkte er nichts davon, zumindest nicht bewusst, was vermutlich an der allgemeinen Aufregung lag, und am immer noch ziemlich großen Durcheinander in seinem Kopf.
    »Na?«, fragte Laurentius.
    »Na was?«
    »Kommt da keine Frage?«
    »Die Schlangen …« Benjamin versuchte einen klaren Gedanken
zu fassen. »Die Darstellungen der Schlangenwesen in der Stadt.«
    »Gut beobachtet«, erwiderte Laurentius. »Aber ich höre noch immer keine Frage.«
    »Was sind die Schlangen?«, fragte Louise. »Was bedeuten sie?«
    Laurentius lächelte. »Die Schlangen sind sie .«
    »Was?«, fragte Benjamin.
    »Eine sehr intelligente Frage, mein Junge«, spottete Laurentius, während die fünf Pendel der Kohärenz weiter durch den Raum schwangen und die Zahnräder und Wellen sich drehten. Das Licht zwischen ihnen leuchtete nicht gleichmäßig. An einigen Stellen schwächte es sich ab, an anderen strahlte es heller. »Damit liegst du in jedem Fall richtig.«
    »Die Schlangen sind deine … Auftraggeber?«, wandte sich Louise an den Alten.
    »Du bist nicht auf den Kopf gefallen, junge Dame«, sagte Laurentius. »Im Gegensatz zu deinem Freund hier. Ja, die Schlangen machten mich hier zum Aufseher ihrer Maschine.«
    »Aber …«
    »Ja, Benjamin?«
    »Was bedeutet das alles?«
    »Gut gefragt, mein Junge. Leider lautet die Antwort: Ich weiß es nicht.«
    »Hör endlich auf damit, verdammt!«, entfuhr es Louise plötzlich. Ihre zornige Stimme übertönte das bienenschwarmartige Summen der Maschine. »Hör auf damit, dir einen Spaß mit uns zu machen! Und lass dir nicht alles einzeln aus der Nase ziehen, verdammt!«

    »Ich lasse mir nichts aus der Nase ziehen, zumindest nicht gern.« Der Alte hob abwehrend die Hände, als Louise einen drohenden Schritt auf ihn zutrat. »Schon gut, schon gut. Ja, die Schlangen brachten mich hierher. Und ja, sie bauten die Maschine. Nehme ich an. Um die Seelen – beziehungsweise Quantensignaturen – gestorbener Menschen in der Stadt zu empfangen.«
    »Warum?«, platzte es aus Benjamin. »Ich meine … Das ist doch nicht normal!«
    »Da sprichst du einen interessanten Punkt an, mein Junge. Was ist normal? Wie müsste das Jenseits beschaffen sein, um deinen Vorstellungen von Normalität zu genügen? Entweder ein Garten Eden, der eigentlich auf eine Art Supermarkt hinausläuft, nicht wahr? Oder das ewige Feuer der Hölle. Aber Vorsicht. Das sind von Menschen geschaffene Jenseitsvorstellungen. Im Lauf der Jahrhunderte und Jahrtausende haben sie so tiefe Wurzeln im menschlichen Denken geschlagen, dass sie für ein Abbild der Realität gehalten werden. Es ist wie mit einer Lüge, die zu scheinbarer Wahrheit wird, wenn man sie lange genug wiederholt und fest an sie glaubt. Ein moderner Ausdruck dafür lautet Anthropomorphismus. Seit dem Tod des ersten Menschen stellen sich die Lebenden das Jenseits auf die unterschiedlichste Weise vor, aber immer sind es menschliche Begriffe, die diese Vorstellungen prägen. Doch warum sollte sich das Universum des Todes den Ideen und Konzepten von Menschen unterwerfen? Wer bestimmt, was ›normal‹ ist? Warum sollte eine Jenseitsmaschine, die die Seelen Gestorbener empfängt, nicht ›normal‹ sein?«
    »Jemand hat die Maschine
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