Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman
Autoren: Andreas Brandhorst
Vom Netzwerk:
sicher bin.« Louise lachte leise. »Es kommt auf den jeweiligen Standpunkt an. Frag die Streuner. Sie sehen die Dinge aus einem anderen Blickwinkel als Hannibal, das steht fest. Und da wir gerade bei Himmel und Hölle sind …« Sie hob den Arm und deutete auf einen Turm, der etwa einen Kilometer vor ihnen aufragte. Daneben wölbte sich eine Kuppel weiß wie Schnee.
    »Eine Moschee?«, fragte Benjamin und blinzelte im Regen.
    »Ja. In den mir bekannten Teilen der Stadt gibt es zwei, und hier hört man manchmal die Stimme eines Muezzin vom Minarett. Wenn es Strom zur richtigen Zeit gibt oder
der Prediger Batterien für sein verdammtes Megafon auftreiben kann. Ich habe einmal kurz mit ihm gesprochen. Er stammt aus Kairo und ist im Nil ertrunken.« Louise blieb kurz stehen und deutete nach links. »Auf der anderen Seite des Flusses, dem noch niemand einen Namen gegeben hat, gibt es eine Synagoge und mehrere kleine hinduistische und buddhistische Tempel. Der Prediger spricht in ihnen allen, aber meistens hat er nicht mehr als zwei oder drei Zuhörer. Ich halte ihn für ebenso irre wie Kowalski, aber er ist Hannibal aus irgendeinem Grund sympathisch, vielleicht wegen seines religiösen Fimmels, und deshalb lässt er ihn immer wieder in den Supermarkt. Öfter als mich oder die anderen Unabhängigen.« Louise schniefte leise. »Wie dem auch sei, unser Jenseits ist nicht allein Christen vorbehalten. Ob das etwas zu bedeuten hat …« Sie zuckte die Schultern unter dem Regencape. »Wenn du wissen willst, wer wirklich plemplem ist, Ben … Ich sage nur: Dago. Mit ihm könnten Kowalski und der Prediger nicht einmal dann mithalten, wenn sie noch einmal zehn Jahre Zeit hätten, das Verrücktsein zu üben.«
    »Dago …«, murmelte Benjamin.
    Louise wich einer Pfütze aus. Der Regen wurde noch stärker, prasselte auf sie herab und verwandelte die Rinnsteine in Bäche.
    »Der Anführer der Streuner«, sagte Louise. »Ein echt übler Bursche. Hat schon zweimal versucht, den Supermarkt unter Kontrolle zu bringen. Bisher ohne Erfolg. Der Knallkopf fühlt sich dazu berufen, die ganze Stadt zu beherrschen. Was auch immer geschieht, Ben: Halt dich von ihm und den Streunern fern. Sie sind noch immer auf der Suche nach dem
Arsenal, genau wie ich und einige der anderen, und wer es als Erster findet, hat einen echten Trumpf in der Hand. Es muss hier irgendwo sein, und …«
    Louise unterbrach sich, als sie Benjamins Blick bemerkte. Sie blieb stehen und zog ihn in einen Hauseingang, wo sie einigermaßen vor dem Regen geschützt waren.
    »Ich hab’s schon wieder getan, nicht wahr? Geplappert, meine ich. Bist gerade erst in der Stadt eingetroffen, und ich quatsche dich voll.« Sie lächelte matt.
    »Was?« Vor Benjamins Augen begann sich alles zu drehen. Das Trommeln des Regens und Louises Stimme verschmolzen zu einem Brummen, das immer lauter wurde, zu einem Brausen, das es fast unmöglich machte, einzelne Worte wahrzunehmen. Louises Lippen bewegten sich, und er musste sich konzentrieren, um sie zu verstehen.
    »Hier, Ben, trink einen Schluck. Hörst du? Trink von der Medizin.«
    Louise hatte eine Flasche aus ihrem Rucksack geholt und hob sie ihm an den Mund. Er trank und verzog das Gesicht. Hatte es beim ersten Mal ebenso gebrannt? Er konnte sich nicht daran erinnern.
    »Meine Güte, was ist das?«, ächzte er und beobachtete, wie Louise selbst einen Schluck nahm, die Flasche dann wieder in ihrem Rucksack verschwinden ließ.
    »Eine Mischung aus Schnaps und Kräutersäften. Das genaue Rezept bleibt Emilys Geheimnis.«
    »Emily?«
    »Die Apothekerin.« Louise berührte seine Wange. »Na bitte, du kriegst wieder Farbe. Auch die Toten wissen einen guten Schluck zu schätzen.«

    »Ich habe vor einigen Jahren mit dem Trinken aufgehört. Es schadet der Gesundheit.«
    Louise klopfte ihm auf den Arm. »Das ist das Gute daran, wenn man tot ist. Das Schlimmste, was einem passieren kann, ist bereits passiert. Komm jetzt, Ben. Es liegt noch ein weiter Weg vor uns.«

4
    Sie wanderten durch eine Dämmerung, die Stunden dauerte, als könnte sich die Stadt nicht entscheiden, ob sie wachen oder schlafen wollte. Es hörte schließlich auf zu regnen, und am Himmel drifteten seltsam regelmäßige Wolken auseinander, schufen Platz für die Sonne, die zwar nicht größer war als jene, die Benjamin aus seinem Leben kannte, aber irgendwie den Eindruck vermittelte, näher zu sein. Sie wirkte … künstlich, wie eine große Lampe, die jemand an den Himmel gehängt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher