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Die Stadt der Wahrheit

Die Stadt der Wahrheit

Titel: Die Stadt der Wahrheit
Autoren: James Morrow
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unzufrieden über die unzumutbaren Mengen von Zucker, die wir in unsere Kinderflocken geben, und deshalb freuen wir uns, verkünden zu können, daß wir eine neue Politik der…«
    Endlich: das Wittgenstein-Museum, ein einstöckiges Backsteingebäude, das sich auf einer großen Betonfläche ausbreitete, auf der nördlichen Seite flankiert von einer Station der Brutalotruppe und auf der südlichen von einem Cafe mit dem Namen Dummer Hund. Der Wachtposten, ein junger Mann mit vorstehenden Zähnen und kurzem Haarschnitt, an dessen Gürtel ein Remington-Metapenis hing, winkte mich durch das Eisentor. Ich fuhr in Richtung Parkplatz. Derrik Popkes von der Abteilung Ägyptische Ausgrabungen hatte seinen Vorsprung ausgenutzt, um mir meinen Stammplatz wegzunehmen und ihn durch seinen Ford ausreichend zu entweihen, so daß ich bis ganz hinten zum Hauptverbrennungsofen fahren und beim Kohlebehälter parken mußte.
    »Lenke deinen Gewalttrieb in eine begrüßenswerte Richtung – komm zur Marine. Läutere deine natürliche Neigung zu…« Ich brachte das Radio zum Schweigen, stellte den Motor ab.
    Wie war das Leben im Zeitalter der Lügen gewesen? Wie hatte die Menschheit eine Welt ertragen, in der Politiker irreführende Reden schwangen, Werbeleute zu dick auftrugen, Kirchenleute übertrieben, Frauen sich mit Make-up verschönerten und die Leute beim geringsten Anlaß von Liebe sprachen? Wie hatte die Menschheit diese Epoche überlebt, über die wir alle in den Geschichtsbüchern gelesen hatten, diese alptraumartigen Jahrhunderte der haarspalterischen Sitten und verlogenen Rituale? Die Vorstellung verwirrte mich, erschütterte mich bis ins tiefste Innere. Osterhase, Klapperstorch, Weihnachtsmann, Väterchen Frost, Rudolf das rotnasige Rentier: unfaßbar.
    »Sie kommen zu spät«, bemerkte der Museumsdirektor, der glatzköpfige und wohlbeleibte Arnold Cook, als ich ins vordere Büro spazierte. »Viel Verkehr?«
    »Ja.« Ich schob meine Karte in den Schlitz der Stechuhr und spürte, wie ihr Mechanismus mein Zuspätkommen rüttelnd ausdruckte. »Stoßstange an Stoßstange.« Häufig verspürte man den Drang, kurz vor der totalen Aufrichtigkeit haltzumachen. Doch dann plötzlich überkam es einen: ein dumpfes Nervenpochen, das, wenn man nicht die ganze Wahrheit aussprechen würde, sich rasch zu einer psychosomatischen Explosion im Schädel auswachsen würde. »Ich habe außerdem viel Zeit vergeudet, um die Adresse einer jungen Frau herauszubekommen.«
    »Haben Sie die Absicht, den Beischlaf mit ihr auszuüben?« fragte Mr. Cook, während er mir in den Umkleideraum folgte. Obwohl es noch früh am Morgen war, war er bereits von seinem charakteristischen Schweiß überströmt, Tropfen, die, wie ich ihm einmal in einer besonders qualvollen Erfüllung meiner Bürgerpflicht eröffnen mußte, mich an ein Katzenklo erinnerten.
    Overalls aus grobem Köper hingen schlaff in den Spinden. Ich entschied mich für einen, der aussah, als könnte er ungefähr meine Größe haben. »Ehebruch ist betrügerisch«, erinnerte ich den Museumsdirektor.
    »Eheliche Treue ebenso«, erwiderte er. »In gewisser Hinsicht.«
    »In gewisser Hinsicht«, stimmte ich zu, während ich mir den Overall anzog.
    Ich durchschritt einen nichtwörtlichen Rattengang von dunklen, staubigen Fluren bis zu meiner Werkstatt. Sie war vollgestopft mit allerlei Gegenständen. Wie üblich, unterteilten sich die Objekte, die ich an diesem Tag analysieren sollte, zu gleichen Teilen in authentische Kunst, die von den Archäologen ausgegraben worden war, und die Ersatzprodukte, die der heimlichen Unzufriedenheit der Stadt entsprangen – dem Kreis der ›Schwindler‹. Auf jede Statue aus dem antiken Griechenland kam eine grobe Nachahmung. Auf jeden Cezanne eine stümperhafte Fälschung. Auf jeden Roman aus dem achtzehnten Jahrhundert ein Erguß der Eitelkeit.
    Die Schwindler. Selbst jetzt, nach allem, was ich durchgemacht habe, fährt mir bei diesem Wort ein kalter Wind durch die Knochen. Die Schwindler: Veritas’ Feinde im Innern, die die Mauern mit ihren hingeschmierten Gemälden besudelten, die Luft mit ihren Liedern verpesteten und – überaus wagemutig – die Straßen in ein Forum für Sophokles, Shakespeare, Ibsen und Shaw verwandelten, wobei es sich jeweils um holperige, schlampige Aufführungen handelte, in panischer Eile inszeniert, bevor die Brutalotruppe zur Stelle sein konnte, um die Gesetzlosen in ihre Löcher und Verstecke zurückzujagen. Nur ein einziges Mal war ein
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