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Die Stadt der Wahrheit

Die Stadt der Wahrheit

Titel: Die Stadt der Wahrheit
Autoren: James Morrow
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Törtchens (Die Verlogenheit der guten Manieren war kürzlich auf den ersten Platz der Times-Bestsellerliste gerückt). »Wollen Sie mir Ihre Knittelverse zeigen?«
    »Es sind schlechte Knittelverse.«
    »Knittelverse sind per definitionem schlecht.«
    »Meine sind noch schlechter.«
    »Bitte.«
    Martinas geschmeidige Züge zogen sich zu einem nachdenklichen Stirnrunzeln zusammen. »Jetzt besteht eine ganze Menge sexueller Spannung zwischen uns, würden Sie das auch sagen?«
    »Stimmt.«
    Sie griff in ihre Tasche und zog ein zusammengefaltetes Blatt weißes Manuskriptpapier heraus, das sie mir mit einem ergebenen Augenaufschlag in die Hand drückte.
    Das erste war eine Botschaft zum Valentinstag.
     
Du bist für mich ziemlich erregend,
nicht zu groß und nicht zu klein,
und ich fände es ganz schön bewegend,
könnte ich dein Valentin sein.
     
    Dann folgte ein Glückwunsch zum Geburtstag.
     
Rosen fallen irgendwann um zum Sterben,
es vergeht auch das Veilchen klein,
Jeder Tag bringt uns näher ans Verderben,
Dein Geburtstag soll glücklich sein.
     
    »Ich gebe mich nicht der Illusion hin, daß ich von meiner Dichterei leben könnte«, sagte Martina, unverschämt untertreibend. »Was ich in Wirklichkeit anstrebe, ist eine Laufbahn als Verfasserin politischer Reden. Der Abgeordnete meines Wahlbezirks hätte mich beinahe mit der Kampagne für seine Wiederwahl beauftragt. ›Als Person kühl, im Handeln leistungsfähig‹ – das war der Slogan, den ich mir ausgedacht hatte. Schließlich bekam seine Freundin den Job. Gefallen Ihnen meine Verse, Jack?«
    »Sie sind schrecklich.«
    »Ich werde sie verbrennen.« Martina küßte eine Orangenspalte und saugte ihr den Saft aus.
    »Nein, tun Sie das nicht. Ich möchte sie gern haben.«
    »Sie möchten sie haben? Weshalb?«
    »Weil ich damit rechne, daß Sie noch etwas anderes auf das Blatt schreiben werden.« Ich zog meinen Kugelschreiber aus der Hemdtasche (einen Paradox Pen). »Sagen wir, zum Beispiel, die Information, die ich brauche, um Sie wiederfinden zu können.«
    »Wir können also ein Verhältnis haben?«
    »Der Gedanke macht mir angst.«
    »Sie sehen einigermaßen gut aus«, bemerkte Martina und nahm den Kugelschreiber. In der Tat. Die Augenbrauen sind es, die das ausmachen, dichte, buschige Vorsprünge, die an ein raubtierhaftes Säugetier von ungewöhnlichen Fähigkeiten denken lassen – Wolf, Bär, Leopard –, wobei sie noch beträchtliche Unterstützung von meiner geraden Nase und dem kantigen Kiefer bekommen. Erst wenn man das Kinn betrachtet, eine spitze, pickelige Knolle, die ständig mit Bartstoppeln bedeckt ist, löst sich die Illusion von Vollkommenheit auf. »Ich warne Sie, Jack. Ich besitze meinen eigenen Smith-und-Wesson- Zudringlichkeitsstopper.« Sie schrieb ihren Namen in fetten Schnörkeln quer über den unteren Teil der Seite und fügte ihre Adresse und die Telefonnummer hinzu. »Wenn Sie versuchen, mich mit Gewalt zu nehmen, dann erschieße ich Sie.«
    Ich nahm die Knittelverse vom Tisch und schnippte einen Törtchenkrümel von dem Wort Valentin. »Komisch – an dieser Stelle hätten Sie fast gelogen. Rosen fallen nicht um zum Sterben, sie…«
    »Sie welken langsam.«
    »Wenn ich Sie wäre, Martina, würde ich meine Gesundheit nicht so leichtfertig aufs Spiel setzen.«
    »Wenn Sie ich wären«, entgegnete sie, »dann würden Sie sehr wohl Ihre Gesundheit so leichtfertig aufs Spiel setzen, sonst wären Sie nicht ich.«
    »Stimmt auch wieder«, sagte ich und steckte Martina Coventrys dämliche Verse ein.
     
    Am Galileo-Platz herrschte ein Verkehrsstau, ein dichter metallischer Knoten, der eine Verzögerung von mindestens zwanzig Minuten bedeutete. Ich schaltete das Autoradio meines Plymouth Adäquat ein, wählte den Sender Wahrheit-West und fügte mich ins Warten. Achtzehnte Straße, Neunzehnte Straße, Zwanzigste…
    »… die Tatsache, daß ich während des Avelthorpe-Skandals Schmiergelder in Höhe von fünfzigtausend Dollar kassiert habe, sollte meines Erachtens nicht von meinen Leistungen in den Bereichen Erziehung, Umwelt und Gesundheit ablenken…«
    »Fünfundzwanzigste Straße, Sechsundzwanzigste Straße, Siebenundzwanzigste Straße…«
    »… denn obwohl wir unbestritten riesige Mengen von Protein abzweigen, mit denen der Hunger in der Welt gelindert werden könnte, ist der psychologische Nutzen von Hunden und Katzen so gründlich bewiesen, daß jeder Schatten einer…«
    »Dreißigste Straße, Einunddreißigste…«
    »…
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