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Die Stadt der Wahrheit

Die Stadt der Wahrheit

Titel: Die Stadt der Wahrheit
Autoren: James Morrow
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Schwindler geschnappt worden, und dann hatte die Truppe die Sache vermurkst, indem sie die Frau mit ihren Knüppeln zu Tode geprügelt hatte, bevor man ihr die entscheidende Frage stellen konnte.
    Wie ist es Ihnen gelungen, diese Lügen zu verbreiten, ohne den Verstand zu verlieren?
    Wie?
    Was ich an dieser Arbeit liebte, war die Art und Weise, wie mein Kopf und meine Hände dabei im Einklang miteinander wirkten. Sicher, der rein existenzielle Vorgang der Vernichtung war ziemlich derb, doch diesem Augenblick ging geistige Arbeit voraus; man mußte entscheiden, ob das fragliche Stück, ob Original oder Fälschung, tatsächlich dem Wohl der Allgemeinheit abträglich war.
    Ich wandte mich einem Gegenstand klassischer Verlogenheit zu, das mit der Beschriftung Nike von Samothrake versehen war. Eine Lüge? Ja, offensichtlich: diese Flügel. Eine solche Kreatur auch nur in Händen halten zu müssen, bereitete mir Übelkeit. Kein Wunder, daß Platon bildende Künstler und Verfasser von Theaterstücken aus seinem erdachten Utopia verbannt hatte. »Drei Schritte von der Natur entfernt«, hatte er über sie gesagt, drei Schritte von der Tatsächlichkeit entfernt. KUNST IST LÜGE riefen uns die elektronischen Plakate im Umsicht-Park immer wieder ins Gedächtnis. Wahrheit mochte Schönheit sein, aber der Umkehrschluß davon stimmte einfach nicht.
    Wie ein unter Agoraphobie leidender Mensch, der sich auf ein Picknick im Haus vorbereitet, breitete ich meine Auffangplane aus Segeltuch auf dem Betonboden aus. Ich nahm einen Siebener-Holzhammer aus der Halterung. Die Nike war ohne Kopf gekommen, und jetzt, da ich mich mit meinem Kritikergerät an ihr zu schaffen machte, büßte sie auch die Flügel ein – dann die Brüste, anschließend die Hüften. Massive Marmorbrocken lagen auf der Auffangplane verstreut. Mein Overall stank nach Schweiß, meine Zunge fühlte sich an wie eine getrocknete Feige, die in meinem Mund eingeklemmt war. Ein ermüdendes Unterfangen, die Kritik; eine zermürbende Schufterei, die Analyse. Ich hatte eine Pause verdient.
    Auf dem Schreibtisch in meiner Bürozelle lag eine Notiz.
     
Lieber Mr. Sperry!
Letzten Freitag, Sie werden sich vielleicht erinnern, boten Sie mir an, in meiner Angelegenheit einen Brief zu schreiben.
     
    Ich las weiter, während das Wasser kochte.
     
Ich hoffe, Mr. Cook wird ihn bis Ende dieser Woche erhalten.
Mit ziemlich freundlichen Grüßen,
Stanley Marcus.
     
    Ich stellte meinen Becher ab, versenkte einen gehäuften Teelöffel voll Halb-Instant-Pulver darin – Donaldsons Trinkbarer Kaffee, meine Lieblingsmarke –, goß Wasser aus dem Kessel dazu und begann, im Geiste ein Empfehlungsschreiben für Stanley zu verfassen. Er arbeitete jetzt seit über einem Jahr als Assistent in meinem Bereich, wo er etlichen von uns Kritikern zu Diensten war – er schärfte unsere Äxte, füllte unsere Sprengfackeln mit Treibstoff, kehrte unsere Werkstätten und Bürozellen gewissenhaft aus –, und jetzt trachtete er nach einer Beförderung. ›In aller Ehrlichkeit glaube ich, daß sich Stanley als einigermaßen fähig für die Betreibung des Hauptverbrennungsofens erweisen würde. Natürlich ist er ein wenig stumpfsinnig und speichelleckerisch, aber diese Eigenschaften könnten ihm möglicherweise sogar zugute kommen. Was einem an Stanley auffällt, ist sein häufiges Furzen, aber auch damit nenne ich keine typischen Merkmale, die hinderlich wären…‹
    Ich warf einen Blick auf meinen Kalender, eine Beigabe der Zeitschrift Gegenschlag – zum Glück, denn sonst hätte ich wahrscheinlich nicht mehr an die Verabredung mit meiner Frau zum Essen gedacht. Helen stand da in dem Feld des neunten Juli, 1 Uhr, Miese Mixgetränke. Das Miese Mixgetränke in der Neunundzwanzigsten Straße hatte köstliche Meerestier-Sandwiches und herrliche Waldorf-Salate. Seine Mixgetränke waren nichts Besonderes.
    Miss Juli – eine gewisse Wendy Warren laut der dazugehörenden Persönlichkeitsbeschreibung – gaffte mich von dem Hochglanzpapier an. Als Intellektuelle, lautete ihre Kurzbiografie, erwies sich Wendy als überaus anstelliges Fotomodell. Sie wurde zitiert mit den Worten: >Es ist gleichzeitig geschmacklos und aufregend, demütigend und anregend. Wenn es mir nur um die schnellverdienten Fünftausend gegangen wäre, hätte ich es niemals in Betracht gezogen. Als wir merkten, wie klug sie ist – Gewinnerin der Bezirks-Schachmeisterschaft und so weiter –, hätten wir sie beinahe nicht genommen. Wir wußten
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