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Die Stadt der Wahrheit

Die Stadt der Wahrheit

Titel: Die Stadt der Wahrheit
Autoren: James Morrow
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wahrscheinlich schon vergessen.«
    »Es hat ihn gebissen?«
    Ralph Kitto
Geschäftsführer
Lager Weg-mit-den-Kindern
Postfach 145
Bezirk Kant
     
Mr. und Mrs. Sperry,

wie Sie vielleicht wissen, hat es sich Ihr Sohn zu seiner ärgerlichen Aufgabe gemacht, alle Tiere zu befreien, die in unsere Rattenfalle geraten. Gestern wurde er bei der Ausübung einer derartigen zweifelhaften mitleidsvollen Tat von einer seltenen Spezies angegriffen, die Hobs Hase heißt. Wir haben seine Wunde sofort verbunden und uns anhand seiner ärztlichen Unterlagen davon überzeugt, daß seine Tetanusimpfungen noch wirksam sind.
Als Sicherheitsvorkehrung haben wir das Kaninchen in Quarantäne genommen. Es tut mir mäßig leid, Ihnen sagen zu müssen, daß das Tier heute gestorben ist. Wir haben den Leichnam sofort eingefroren und unverzüglich an das Epidemiologische Institut Kraft eingeschickt. Die Ärzte von Kraft werden sich unverzüglich mit Ihnen in Verbindung setzen, falls Anlaß zur Besorgnis besteht, obwohl ich vermute, daß Sie sich bereits jetzt Sorgen machen.
    Mit gelinder Hochachtung,
Ralph Kitto
     
    »Warum hast du mir das nicht gleich gezeigt?«
    Helen zuckte die Achseln. »Das ist doch keine Staatsaffäre.«
    Gelassene Helen mit den starken Nerven! Es gab Augenblicke, da fragte ich mich, ob sie überhaupt etwas für Toby empfand. »Beunruhigt es dich nicht, daß das Kaninchen gestorben ist?«
    »Vielleicht war es alt.«
    Meine Zähne preßten sich in einem schmalen, gespannten Grinsen zusammen. Der Gedanken an Tobys Schmerz bereitete mir Kummer. Nicht der physische Schmerz – der hatte ihm vielleicht sogar ganz gutgetan und ihn für seinen Gehirnbrand abgehärtet. Was mich traurig machte, war das Gefühl von Betrug, das er empfunden haben mußte; mein Sohn war stets in gutem Glauben mit der Welt umgegangen, und jetzt hatte die Welt ihn gebissen. »Es gibt etwas, das ich dir sagen muß«, gestand ich meiner Frau. »Bevor ich Martinas Knittelverse verbrannte, habe ich mir ihre Adresse und die Telefonnummer eingeprägt.«
    Helen machte ein Gesicht, als ob ihr ein übler Geruch um die Nase wehte. »Wie bereitwillig du dieselben ekelhaften Eigenschaften an den Tag legst, die man gemeinhin Arschlöchern zuschreibt. Ehrlich, Jack, manchmal frage ich mich, warum wir geheiratet haben.«
    »Manchmal frage ich mich das auch. Ich wünschte, das Kaninchen wäre nicht gestorben.«
    »Vergiß das Kaninchen. Wir reden davon, warum ich dich geheiratet habe.«
    »Du hast mich geheiratet«, antwortete ich und sprach damit die Wahrheit aus, »weil du dachtest, ich sei deine letzte Chance.«

 
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2
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    Samstag: Schweine haben Flügel, Hunde können sprechen, Geld wächst auf den Bäumen – wie ein blödsinniges und beharrliches Lied wogt diese Litanei durch mich hindurch, rollt zwischen den Falten meines Großhirns herum, wie es immer war, wenn für eine meiner Nichten die Zeit des Gehirnbrandes gekommen war. Steine sind lebendig, Ratten jagen Katzen – zehn ausgesprochene Lügen, die zehn Gebote des Betrugs, die im Herzen unserer Stadt schlummern wie ein Drache, der neben einem unterirdischen Schatz schläft. Salz ist süß, der Papst ist Jude – und plötzlich hat das Kind es vollbracht, plötzlich hat sie den verwerflichen Mantel der Jugend abgelegt und die Unschuld des Erwachsenseins angelegt. Plötzlich ist sie eine Frau.
    Ich erwachte an diesem Morgen voller Angriffslust und riß die Decke von mir, als ob mich nichts anderes von der vollkommen Wachheit trennen würde. Auf der anderen Seite des Zimmers schlief meine Frau friedlich, gleichgültig gegenüber den traurigen Wahrheiten der Welt, gegenüber dem toten Kaninchen. Wir führten eine Zweibett-Ehe. Der tiefe Symbolgehalt ließ mich nicht kalt. Häufig liebten wir uns am Boden – auf dem schmalen neutralen Territorium zwischen unseren Matratzen, in unserem ehelichen Genf.
    Gähnend begab ich mich in die Duschkabine, wo im selben Moment, da mich die Sensoren aufspürten, warmes Wasser aus der Wand schoß. Der Fernsehempfänger ging blinzelnd an – es lief das Programm Ertragen wir einen weiteren Tag. Unter den Scheinwerfern des Studios wilde Grimassen schneidend, diskutierte der Staatssekretär im Imperialistischen Amt die zunehmende Einbeziehung unserer Stadt in den Hegelschen Bürgerkrieg. »Bis jetzt sind über viertausend veritasianische Kampfeinheiten ums Leben gekommen«, bemerkte der Interviewer, während ich mich mit Bourgeois-Seife einschäumte. »Ein sinnloser
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