Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit
Autoren: Greg Bear
Vom Netzwerk:
und starrte aus Schweinsäuglein in das Purpur der Morgendämmerung.
     
    Später am Tag, auf der Rückfahrt nach London und zu den wartenden Geschäften, zupfte Max graubraune Federn aus den Netzen und versuchte die Körbe, in denen die Vögel aufgeregt mit den Flügeln schlugen, im Gleichgewicht zu halten. Die piepsenden neuen Gefangenen, es waren Hunderte, verstummten nach und nach – darauf war stets Verlass. Wie Küken drängten sie sich zusammen und schlossen die verschreckten Augen. Viele Vögel starben am Schock, ehe sentimentale Hausfrauen mit ihnen turteln konnten. Es war seine Aufgabe, die toten oder sterbenden Vögel auszusondern und in Hecken oder Gossen zu werfen. In der Stadt kam es hin und wieder vor, dass geschmeidige braune Ratten vorbeihuschten, zwischen den Rädern des Karrens herumsprangen und sich an den Kadavern labten.
    In einem muffigen Kellerraum brachte der Bucklige dem kleinen Max bei, wie man Dompfaffen abrichtete, indem man die Vogelbauer zunächst mit Tüchern verhängte und die Neuankömmlinge hungern ließ, bis sie klein beigaben. Später pfiff man ihnen bestimmte Tonfolgen vor, die lieblich durch die schale Luft drangen, damit sie die Melodien nachahmten. Zur Belohnung brachte man sie kurz an die Sonne und gab ihnen
Futter. Auf diese Weise lehrte der Alte die kleinen Geschöpfe, sich Londons beliebteste Melodien zu merken und später zu trillern.
    Nach sechzig qualvollen Jahren war der Vogelfänger an Schwindsucht gestorben. Ehe der Sohn des Vogelfängers, der sich dem Vater entfremdet hatte, Max aus der engen, verwinkelten Bruchbude warf, die sie ihr Zuhause genannt hatten, hatte Max die letzten Vögel aus ihren Beständen freigelassen. Er hatte die Türen der Vogelbauer hochgeschoben und den Fang einer ganzen Woche in den dunstigen Himmel gescheucht. Das war sein letztes gutes Werk gewesen.
    Glaucous hatte jüngst, nachdem bei den Hounslow Barracks eine Bahnstation eingerichtet worden war, die Vogelgebiete besucht, die dem buckligen Alten am liebsten gewesen waren. Er war neugierig gewesen, hatte zu seinem Leidwesen jedoch feststellen müssen, dass die einst vertrauten Äcker und Felder inzwischen Straßen, gelben Backsteinhäusern und kleinen Gärten gewichen waren. Nach all den Jahren hatte sich so vieles verändert, dennoch war seine eigene Situation nicht viel anders als früher. Immer noch ging er auf die Jagd, immer noch lieferte er junge Geschöpfe selbstsicheren Herren und deren Gebieterin aus. Allerdings war diese Dame, die Kalkfürstin, alles andere als eine gewöhnliche Frau.
    Jedenfalls roch die Morgenluft noch ziemlich so wie früher.
    Nachdem er sein Taschentuch wieder verstaut hatte, sog Glaucous eine Flamme in seine kleine Pfeife ein, schnippte das Streichholz weg und trat aus dem Schatten des Vorbaus. Er wandte sich nach Süden, entfernte sich von dem üppigen, blaugrün schimmernden Gras, den roten und grauen Gebäuden aus Backstein, Beton und Stahl, den geschäftigen jungen Büroangestellten
und ging auf das Viertel zu, in dem die Menschen mit leerem Blick und ausgestreckten Händen zu finden waren. In dieser Hinsicht glichen sich alle Städte, ob es dort regnete oder die Sonne schien: Die Kehrseite all des Wohlstands und Reichtums war blinde Not.
    Schon von Berufs wegen interessierte Glaucous sich für einige der Bewohner, die wie angestaubte Puppen auf den Fußwegen kauerten oder herumstanden – Trickbetrüger, Straßenkünstler, Gauner, der herumziehende Abschaum jeder großen Stadt. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er den jüngeren Menschen. Es war durchaus möglich, dass manche von ihnen Glücksjäger oder Schicksalswandler waren, ohne von ihren schwach ausgeprägten Talenten überhaupt zu wissen. Dennoch waren diese Leute interessant, insbesondere, wenn sie zu träumen begannen.
    Anders als in London konnte man die Innenstadt Seattles bei forschem Schritt in weniger als einer Stunde von Osten nach Westen durchqueren und dabei die Straßen abgrasen. Allerdings zog er es vor, in seiner Wohnung sitzen zu bleiben und abzuwarten. Schon aufgrund seiner Erfahrungen als Vogelfänger fiel es ihm nicht schwer, die Fassade der Geduld zu wahren, hinter der manche nur Müßiggang vermuteten.
     
    Er fand den grauen Mercedes auf einem schäbigen gebührenpflichtigen Parkplatz. Die Heckscheibe war wegen des Rauchs mit einer goldenen Patina überzogen, das Armaturenbrett mit zwölf Quittungen übersät, eine für jeden Tag. Scharfe Fingernägel hatten Pfade durch den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher