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Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit
Autoren: Greg Bear
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bezweifelte er, dass er es bis dorthin schaffen würde. Trotzdem musste er es versuchen. Sich während der ersten Stunde in einer seltsamen neuen Welt in die Hose zu machen, war das Letzte, worauf er Lust hatte.
    Er griff nach hinten, schnappte sich Rucksack, Mantel und Plastikflasche und begann zu rennen. Dabei schaffte er einen Sprung durch die Realität, der gerade dazu ausreichte, die Ampel auszutricksen: Das Zeichen für Fußgänger wurde grün, obwohl niemand auf den Knopf gedrückt hatte. Mehrere Wagen bremsten scharf und hätten ihn fast erwischt, aber er kam unversehrt davon.
    Eines ist gleich geblieben: Ich hab den Bogen immer noch raus. Schöner leben durch Physik.
    Die Knie hochreißend, rannte er ruckartig weiter.

4
Seattle
    Die Wolken ballten sich zusammen; Regen ließ das Straßenpflaster grau schimmern. Max Glaucous mochte diese Stadt, sie erinnerte ihn an London. Dort war er geboren, dort hatte er als kleiner Junge dabei geholfen, Singvögel einzufangen und zu verkaufen. Viele Dompfaffen, zähe Distelfinken, zierliche Flachsfinken, die schöner sangen als Kanarienvögel.
    Immer noch sah Glaucous sich als Vogelfänger, als ebenso pummeligen wie pingeligen Vogelfänger. Den Großteil seines Lebens hatte er damit verbracht, nachts quer durch England oder durch die Vereinigten Staaten zu fahren, von der Großstadt bis zu irgendeinem winzigen Ort im Hinterland und später zurück, um seine Netze auszuwerfen. Stets hatte er mit unendlicher Geduld auf den seltensten, perfektesten Fang gewartet; schließlich wollte er für seine Auftraggeber keine x-beliebigen Vögel einfangen, denn damit hätte er seinem Gewerbe Schande gemacht. Abgesehen davon, hätte es für sein langes Leben im Dunkel der Nacht auch ein fatales Ende bedeuten können.
    Hin und wieder schickten seine Auftraggeber zwei oder mehr Treiber in dasselbe Gebiet oder in dieselbe Stadt. Rangstufen und Vorrechte gab es bei ihnen nicht. Dann war es an ihm, die Konkurrenz aufzustöbern und auszuschalten, was meistens nicht schwierig war; in jüngster Zeit hatten die Auftraggeber ziemlich viele Menschen angeworben, doch nur selten stieß Glaucous auf jemanden, der irgendwelche Erfahrungen mitbrachte.
    Jetzt also war er hier gelandet, reagierte auf eine Zeitungsanzeige, die ein anderer aufgegeben hatte, und stolzierte die Fifth
Avenue so hinunter, als hätte er tagsüber wichtige Dinge zu erledigen – ein kleiner, breiter, kompakter Mann von unbestimmtem Alter. Er trug einen grauen Geschäftsanzug und darunter ein schlichtes weißes Hemd. Die schwarze Krawatte zwängte seinen dicken Hals wie eine Schlinge ein, so dass von seinem blassen, pockennarbigen Gesicht Schweiß perlte. Im Schatten eines lang gestreckten Theatervorbaus blieb er stehen und zog ein Taschentuch heraus. Dabei krümmte er die Finger der fleischigen, kräftigen Hand, um die Narben an den Knöcheln zu verbergen. Die Luft war zwar kühl, doch die niedrige Wolkendecke hatte sich einen Spalt geöffnet, und er mochte die Sonne nicht. Ihre Wärme und der Glanz auf den feuchten Straßen riefen ihm Dinge ins Gedächtnis, die er verloren hatte, darunter auch die Fähigkeit zur Reue. Die Helligkeit drang ihm in die kleinen dunklen Augen und leuchtete Räume in seinem Kopf aus, die Lücken in langen Reihen alter Bücher ähnelten.
    Die Flügel seiner mehrfach gebrochenen, dicken Nase blähten sich. Während er die Augen halb schloss, das Taschentuch wieder verstaute und die Hände auf einen dünnen schwarzen Spazierstock stützte, sah Glaucous wie auf einer Laterna magica einen alten Eselskarren vor sich. Darauf stapelten sich Netze, Vogelbauer aus Rohr und sternförmige Netzbeschwerer aus schwerem Metall. Er sah, wie der für seine Rufe bekannte Flachsfink benommen in dem engen Drahtgehege kauerte, das gleich neben dem buckligen alten Vogelfänger auf einem Brett stand. Sah, wie die frühmorgendliche Dunkelheit des Frühlingstags so über den Straßen lag, als hätte jemand einen Vogelbauer mit einem Tuch verhängt. Jetzt verzog der Lehrherr des kleinen Max, der ihm die Familie ersetzte, das Gesicht und erklärte ihm, welche Gebiete sie heute abklappern würden. In
dieser Jahreszeit fuhren sie meistens nach Hounslow, um Dompfaffen einzufangen.
    Während er die Seile festband und wie im Halbschlaf über das aufgerissene Kopfsteinpflaster stolperte, lauschte er auf die leisen Worte seines verkrüppelten Lehrmeisters. Auf der Fahrt saß er hinten im Wagen, wo er heftig durchgerüttelt wurde,
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