Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stadt am Ende der Zeit

Die Stadt am Ende der Zeit

Titel: Die Stadt am Ende der Zeit
Autoren: Greg Bear
Vom Netzwerk:
überhaupt nicht verlassen.
    Daniel – Daniel Patrick Iremonk – war stets geflohen. Hatte stets den Abflug gemacht, wie er es nannte, ehe die Situation völlig kippte. Lange vorher. Das war seine besondere Gabe. Er hatte nie so lange gewartet, bis die Situation unerträglich wurde.
    Vergewissere dich stets, dass dich all das nicht mehr verfolgt – der Staub, der Schleim, die verschlüsselten Bücher, die vielen Hundert mythologischen Tierarten und all die anderen unvorstellbaren
Dinge, die plötzlich und gleichzeitig auftauchen, wobei dich jeder so anstarrt, als wärst du in eine widerliche Überraschungsparty hineinspaziert, bei der kein Wort fällt.
    Sie zerren dich hinein, verschließen die Tür, und dann beginnen sie mit ihren scheußlichen Späßchen und Spielchen …
    Ich muss mich daran erinnern, um jeden Preis – aber ich will es nicht .
    Daniel wischte sich den Mund ab und drehte sich langsam um, um sich zu orientieren. Sonnenschein, Wolken, Matsch vom jüngsten Regen. Auf der anderen Straßenseite stand ein breites, unförmiges Gebäude, beige angestrichen und drei Stockwerke hoch. Oben waren Eigentumswohnungen, unten Geschäfte. Er kannte es gut. Noch vor wenigen Minuten war es ein schäbiges Hotel gewesen.
    Wagen wurden abgewürgt, machten einen Satz nach vorn und blieben stehen, als die Ampel auf Rot wechselte.
    Wenn er den Abflug machte – sich von einem Ufer der Zeit zum anderen katapultierte –, waren meistens nur ein, zwei kleine Dinge verändert: genau die Bedingungen, die er hatte verändern wollen. Noch nie war Daniel in eine andere Version seines Ichs geschlüpft, die derart heruntergekommen war.
    Als sich das nächste Auto näherte, wurde das Fahrerfenster heruntergekurbelt. Eine ältere Frau hielt ihm lächelnd einen Eindollarschein hin. Mit der warmen Luft drangen Gardenienduft und schaler Zigarettengestank nach draußen. Er kniff die Augen zusammen, rührte sich jedoch nicht von der Stelle.
    Ärgerlich zog die Frau den Arm zurück. Die Ampel wechselte auf Grün.
    Der Bettler steckte die Hände in die Hosentaschen und überließ es diesem Körper, ihm das Wichtige zu zeigen: die Bewegungen,
die seine Muskeln Tag für Tag vollzogen. Die dreckigen Finger umklammerten ein kleines Geldbündel. Er zog einen Plastikbeutel heraus, der eine feste Rolle von Eindollarscheinen, einen Fünfdollarschein und etwas Kleingeld enthielt.
    An der Ecke gegenüber stand eine Frau, die mehrere Schichten von Pullovern und Westen und einen langen Rock über ausgeblichenen Jeans trug. Aus dem schmuddeligen Kragen ragte ein Puppenkopf mit rosigen Wangen und struppigem Haar. Ihre Arme und Beine sahen aus wie in Filz gehüllte Stöcke. Sie hielt ein Schild hoch, auf dem sie um Geld bat, doch sie achtete gar nicht auf den einzigen Autofahrer, der anhielt und einen Dollarschein aus dem Fenster streckte. Als der Fahrer hupte, schien sie aufzuwachen und schnappte sich das Geld, während der Wagen nach rechts ausscherte, um sich in den Verkehr der Fernstraße einzugliedern.
    Knauserige Drecksäcke. Speisen uns mit Eindollarscheinen ab, so dass wir uns nur von Hamburgern und Hot Dogs ernähren können und mit der Zeit merken, wie unsere Gedärme verrotten.
    Daniel trug keine Brille, doch selbst über die Kreuzung hinweg hatte er die Banknote deutlich erkennen können. Als er seinen Nasenrücken betastete, ekelte er sich selbst vor seinen schmierigen Fingern. Keine Linien, keine Spur von einer Stelle, wo sich ein Brillenbügel in die Haut gedrückt hatte. Welche Probleme dieser Körper sonst auch haben mochte, zumindest verfügte er über ein gutes Sehvermögen. An welchen Ufern Daniel bisher auch gestrandet war: Stets hatten er und alle anderen Daniels bei ansonsten ausgezeichneter Gesundheit unter schlechten Augen gelitten. Und die Fingernägel an diesen Händen waren zwar eingerissen und verdreckt, aber nicht bis aufs Fleisch abgekaut. Alle Daniels kauten an den Nägeln.
    Bis auf das Geld im Beutel waren seine Taschen leer. Keine Brieftasche, kein Ausweis.
    Die schmutzige Frau wandte sich um und starrte ihn an. Doch sie wirkte nicht unheimlich, zählte nicht zu der schrecklichen schweigenden Gesellschaft.
    Er musste dringend eine Toilette aufsuchen, doch wo sollte er eine finden? Öffentliche Toilettenhäuschen waren nirgendwo zu sehen. Er glaubte zu wissen, wo er wohnte: etwa zwölf Straßenzüge weiter Richtung Westen, in Wallingford. Doch in Anbetracht der Schlange, die sich in seinen Eingeweiden wand,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher