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Die Stachelbeerstraeucher von Saigon

Die Stachelbeerstraeucher von Saigon

Titel: Die Stachelbeerstraeucher von Saigon
Autoren: Siegfried Zimmerschied
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Erziehungsjahr.
    Weichenstellungen für den Rest des Jahrtausends.
    Adenauer und seine Kolonial- CDU bekommen 45,2 Prozent, Walter Ulbricht wird 1. ZK -Sekretär, der Arbeiteraufstand zusammengeschlagen, Ernst Reuter stirbt, » Warten auf Godot « wird uraufgeführt, und im Passauer Stadttheater steht der » Bettelstudent « auf dem Spielplan.
    Ein Jahr, bestens geeignet, den Säugling mit einer Verwandtschaft zu umgeben, bei der jede einzelne Person in der Lage war, den für seine spätere kabarettistische Laufbahn so wichtigen schöpferischen Trotz in ihm zu wecken.
    Wenn sich die Dauerwellen und Fassonschnittköpfe der Verwandtschaft wie Blitz, Donner und Dauerregen kündende Quellwolken mit einem debil grinsenden » Dulledulledu « über den Horizont des Kinderwagens in den Gesichtskreis des Säuglings schoben, dann kam bereits eine frühe Prüfung auf das Geschöpf zu.
    Dann passierte zum ersten Mal das, wogegen es sich später ein Leben lang mit aller Kraft und Kreativität zur Wehr setzen würde, dann wurde es definiert, sein Leben bis zur Rente hochgerechnet, und jeder nagelte seine erlittenen Kriegstraumata und unerfüllten Nachkriegsträume in die noch unverletzte Kinderseele.
    Einige streiften dabei sogar seine wirklichen Fähigkeiten.
    Wie seine Tante.
    Opernsänger sollte es werden, ein Heldentenor.
    In der Namensgebung waren sie sich alle einig gewesen.
    Etwas Nibelungisches entdeckten sie in ihm.
    Einen Siegfried.
    Hätten sie doch einen Alberich gefunden.
    Mit den Rheintöchtern feixend auf einem Schatz zu sitzen, das sollte sich später als sein Wesen herausstellen.
    Drachen töten war nicht seine Art.
    Seine Tante also, die Schwester seiner Mutter, sah in ihm den erfolgreichen Tenor.
    Seine Lieblingstante, sanft und empfindlich, die jeden Tag der Verzweiflung nahe von ihrem Arbeitsplatz in der » Passauer Neuen Presse « kam, über Mobbing, Intrigen und politische Enge klagte und deren Hilferufe an der Stärke ihrer Schwester und der Freudlosigkeit ihrer Mutter abprallten.
    Dann zog sie unter den argwöhnischen Blicken der Mutter ihr hübschestes Kleid an und ging in die Liedertafel oder den Chor des fürstbischöflichen Operhauses in Passau und sang.
    Sang von Jungfernkränzen, die zu winden seien, von Flammen, die zum Himmel lodern, und von den Wipfeln, über denen endlich Ruhe ist.
    Einen kleinen, dicken Koch sah die » hintere « Oma in ihm.
    Obwohl beim Betrachten des Säuglings eine eher raffinessearme Speisenpalette vor ihren Augen entstand, war dieses Gemisch aus Braten, Knödel, Bier, Rohrnudeln, Tabakqualm und stämmigen Bedienungshaxen noch der stimmigste von allen Lebenswünschen, die in den Kinderwagen geträufelt wurden.
    All diesem dionysischen Unflat vermochte die » vordere « Oma nicht das Geringste abzugewinnen.
    Opernsänger, Koch, das war für sie » armer Leute Brot « .
    Für sie stand fest:
    Hier hat ein Polizist heranzuwachsen.
    Hier hat Sicherheit zu entstehen.
    Ein Beamter.
    Einer, der den Vorgesetzten ehrt, bis er selber einer ist.
    Sie sagte das mit derselben Bestimmtheit, mit der sie jedem Weihnachtsfest einen Stimmungshöhepunkt bescherte, indem sie uns mitteilte, dass sie das nächste Weihnachten nicht mehr erleben werde.
    Manchmal waren ihre beiden Freundinnen zu Besuch.
    Eine vertriebene Banatdeutsche und eine weitere Kriegerwitwe.
    Dann erfüllte sich der Raum um den Kinderwagen mit hochtönigem Klagegesang.
    Wenn dieses » Lacrima Christi Trio « anhob, seinen gesammelten Weltschmerz, angereichert mit Zwieback und Kamillentee, dem Kind in der Krippe zu schenken, dann ward der Welt zum einen ein sonderbarer Heiland geboren, und zum anderem wuchs in dem Säugling bereits das Gespür für den klagenden Sprechgesang, die Melodik des Scheiterns, die Sanglichkeit der ritualisierten Wiederholungen.
    Ab und zu legte dann auch noch ein kriegsversehrter Veteran seinen Armstumpf auf den Kinderwagenrand und sprach dem Geschöpf jede Qualifikation für eine militaristische Laufbahn ab, weil es mit seinem schwarzen Lockenhaar aussehe wie ein » Weibaleid « .
    Wenn es seine Mutter mit beiden Armen sowohl fest als auch von sich weghielt, dann traf es ein Blick, der nicht die Frage nach seiner, sondern nach ihrer Zukunft stellte.
    Dann war es in ein Leben getreten, das anders verlaufen hätte sollen.
    Es ging nicht um die Frage, was es werden sollte, sondern warum es überhaupt da war.
    Dafür sah es der Vater mit klarem Blick, wenn er ihm durchs lockige Haar strich, in seine
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