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Die Spur der verlorenen Kinder

Die Spur der verlorenen Kinder

Titel: Die Spur der verlorenen Kinder
Autoren: T.J. MacGregor
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sie zur Schule ging, nach Hause kam? Finde alles raus, was du kannst.
    Er zog eine Taschenlampe aus seiner hinteren Hosentasche und schaltete sie ein. Der Lichtstrahl erreichte ihre Mutter, die immer noch im Sand lag. Sie sah aus, als schliefe sie. Annie konnte kaum sprechen, weil sie einen Kloß im Hals hatte. »Atmet … atmet sie?«
    »Natürlich. Berühre ihren Hals seitlich. Dann kannst du ihren Puls fühlen.«
    Er schien zu begreifen, wie wichtig das für sie war; er ging in die Hocke, damit sie sich hinkauern konnte. Sie hielt zwei Finger an den Hals ihrer Mutter, an die Halsschlagader, und spürte den starken, regelmäßigen Puls. Sie spürte auch die Wärme der Haut ihrer Mutter und inhalierte ihren Duft, eine Mischung aus Salz, Sonnenbrand, Schweiß und etwas anderem, etwas Angenehmem, beinahe Süßem, das sie nicht benennen konnte. »Mami«, flüsterte sie.
    »Nein, sie muss schlafen.«
    Er erhob sich eilig, und die Handschelle schnitt in ihr Handgelenk und zwang sie ebenfalls auf die Beine. »Bitte«, flüsterte sie und begann zu weinen, sie drückte ihre Knöchel fest auf ihre Augen. »Bitte lassen Sie mich hier bei meiner Mom bleiben.« Sie nahm die Hände von ihren Augen. »Ich … ich verspreche auch, nichts zu erzählen. Ich … ich verspreche …«
    »Das geht leider nicht. Komm jetzt, gehen wir zu meinem Boot.«
    Er begann schnell den Strand entlangzugehen und zwang sie, mit ihm Schritt zu halten. Sie taumelte, ging zu Boden, griff sich eine Handvoll Sand. In dem Moment, in dem er sie wieder in den Stand riss, warf sie ihm den Sand ins Gesicht und trat ihm zwischen die Beine. Er kreischte, diesmal war es ein anderes Tiergeräusch, ein erschreckender Laut, und krümmte sich. Er rang nach Atem und wischte sich panisch die Augen. Er sackte auf den Knien in den Sand, und Annie versuchte verzweifelt, die Taschenlampe zu erreichen, die er fallen gelassen hatte. Damit könnte sie ihn ohnmächtig schlagen, dann würde sie den Schlüssel der Handschellen suchen.
    Aber die Handschellen schnitten in die weiche Unterseite ihres Handgelenks, und der Mann – Peter, er hieß Peter – kreischte jetzt nicht mehr. Er stöhnte noch, kreischte aber nicht mehr. Sie reckte sich, ihre Finger hatten die Taschenlampe beinahe erreicht, konnten sie fast berühren, da riss der Mann an der Handschelle, und es fühlte sich an, als würde er ihre Hand direkt am Handgelenk abhacken.
    Annie schrie, drehte sich und trat ihm gegen die Brust. Er packte einen ihrer nackten Füße, dann den anderen, und zog sie durch den Sand zu sich heran. Sie trat und schrie und ergriff noch eine Handvoll Sand. Sie warf sie nach ihm, musste aber sein Gesicht verfehlt haben, denn er zog immer weiter an ihren Füßen. Er zerrte sie durch den Sand. Und als sie direkt neben ihm lag, zischte er: »Das war wirklich schlimm, Annie«, und er drückte sie in den Sand, er fixierte ihre Arme mit seinem Körper. »Ich will bloß, dass du ein Teil meiner Familie bist. Das ist nicht böse. Das ist nicht schlimm. Aber dein Verhalten ist sehr schlimm. Und schlimmes Verhalten fordert ein Opfer.«
    Dann klatschte er ihr etwas Feuchtes auf Nase und Mund, und sie erkannte den Geruch, denselben süßlichen Duft, den sie bei ihrer Mutter wahrgenommen hatte, denselben Duft, den sie eingeatmet hatte, als man ihr die Mandeln entfernt hatte. Chloroform, oh Gott, nein. Nicht atmen. Bleib ganz ruhig. Dann glaubt er, du hättest schon genug davon.
    Aber irgendwann konnte sie den Atem nicht mehr länger anhalten und musste einatmen, sie musste Luft in ihre Lungen saugen, und der Duft erfüllte ihren Mund, ihren Hals, ihre Lungen. Sie sank hinab in eine weiche, samtige Dunkelheit.

Drei
    Patrick Wheaton hob das Mädchen hoch, erfreut darüber, wie leicht sie war. Ihr langes Haar fiel über seinen Unterarm, eine dunkle, verworrene Kaskade, und ihr Gesicht sah merkwürdig friedlich aus. Sie war wirklich ein hübsches kleines Ding, ein Hingucker, genau wie ihre Mutter.
    Er wollte die Locken berühren, die an den Seiten ihres Gesichts klebten, wollte ihrer Form mit der Spitze seines Zeigefingers nachfahren …
    Wie Evies Haar im Sommer, wenn die Hitze dafür sorgte, dass sich ihr blondes Haar lockte. Evie, Evie, bitte bleib …
    Wheaton schüttelte die Erinnerung ab und schaute hinunter auf die Handschelle, die immer noch um Annies Handgelenk lag. Sie baumelte an ihrer Hand herunter wie ein Extrafinger. Bald musste er sie an das Boot fesseln, aber daran wollte er jetzt noch nicht
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