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Die Sprengmeister und der unheilige Gral: Social Fiction (German Edition)

Die Sprengmeister und der unheilige Gral: Social Fiction (German Edition)

Titel: Die Sprengmeister und der unheilige Gral: Social Fiction (German Edition)
Autoren: Heiner Wacker
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Stimme, «ist er nicht wun-der-bar?»
    «Beeindruckend, Frau von der Hohen Ward, beeindruckend. – Die, äh, Art des Farbauftrags kommt mir bekannt vor. – Wer war noch gleich der Künstler?»
    «Oh, Sie Schelm. Nun tun Sie doch nicht so, als wenn Sie es nicht wüssten. Das sieht man doch auf den allerersten Blick. Das ist ein C.O. Hirschley und zwar ein ganz früher. Ich hätte nie zu träumen gewagt, dass ich einmal einen Hirschley mein Eigen nennen würde. Schauen Sie nur: Diese abstrakt wuchernden Formen mit ihrer prozesshaften, grenzüberschreitenden Deklination des Körperlichen. Einesteils fast neoexpressionistisch mit pseudodadaistischen Einsprengseln, andererseits durchdrungen von diesen menschlich tiefen, teils humorvollen, teils sarkastischen Anspielungen auf den Alltag als erlösende Eloquenz rebellischer Posen und vermeintlicher Tabubrüche.» Sie tritt einen Schritt zurück, stemmt ihren rechten Arm in die Hüfte und legt den Kopf auf die Seite. Ihr blassgoldenes Haarteil legt sich in anmutigen Wellen auf ihre Schulter. «Achten Sie auf die Farbkombination. Die für Hirschley so übertypische Form der künstlerischen Auseinandersetzung fokussiert die Parallelität von Massenbewusstsein, Naturerlebnis, schöpferischer Ursprünglichkeit und Mythologie in Form von ironisch-provokanten Aussagen, in denen sich die subtilen Referenzen an seine Sozialisierung verbergen und kombiniert die Linienführung zu fast mystisch anmutenden Arrangements, die einerseits auf eine vermeintlich gerade geschehene Handlung hindeuten, andererseits kurze, affektartige Gefühlsbeschreibungen generieren – ein Konvolut an Existenzmöglichkeiten, die wiederum alle erdenklichen Metamorphosen menschlichen Seins spiegeln und andererseits in ihrem hermetischen System agierend an dessen Grenzen stoßen. Kurzum, es ist eine kuriose, verspielte, verrückte Arbeit mit einem unvermuteten ästhetischen Reiz und das …», sie macht eine dramatische Pause und senkt erneut die Tonhöhe ihrer Stimme, «zu einem un-glaub-li-chen Preis. Ein Schnäppchen geradezu.» Frau von der Hohen Ward legt ihren Kopf auf die andere Schulter, sodass sich ihr Haar nunmehr wie ein Cape über den Rücken legt. Einige Minuten vergehen. Das wirre Gepinsel vor Carsten Augen beginnt zu verschwimmen.
    «Großartig, nicht wahr, Herr Kluncker? Was sagen Sie?»
    «Äh, mir fehlen die Worte. Ich weiß gar nicht, wann ich meinen letzten Hirschley gesehen habe. Das muss … – wenn nicht Jahre …»
    Carsten nutzt die Kunstbetrachterstarre seiner Chefin um sich leise davonzumachen. Der Appetit auf eine gute Tasse Kaffee ist ihm vergangen.

vi Aufräumarbeiten
    In der Pathologie der ehemaligen Universitätsklinik sieht es aus wie im Outletstore einer Farbenfabrik. Unzählige Eimer stapeln sich entlang der Wände bis hinein ins Treppenhaus, stehen auf den Tischen und darunter. Professor Doktor Steinhaus, sonst der Leiter der chirurgischen Abteilung der Raphaelsklinik, nimmt eine der allgegenwärtigen Edelstahlkisten und stellt sie umgekehrt auf den Boden, rafft seinen blütenweißen Kittel und besteigt vorsichtig das improvisierte Podest. Dann räuspert er sich vernehmlich. Der Trick gelingt. Das Gemurmel der etwa dreißig Anwesenden ebbt ab und verstummt schließlich. Es wird still, totenstill.
    «Liebe Kollegen, liebe Mitarbeiter, liebe Praktikanten und Aushilfen. Ich muss Ihnen nicht sagen, warum wir heute hier versammelt sind. Lassen Sie mich einfach ein paar Worte zum Prozedere verlieren. Hinter sich an den Wänden sehen Sie einen schätzungsweise fünfzigprozentigen Teil der etwa dreihundertdreißig Opfer des jüngsten Anschlags, die nicht wie gewohnt und üblich am Stück geliefert wurden, sondern in mehr oder weniger kleinen Einzelteilen oder flüssig . Ihre Aufgabe ist es, diese Einzelteile zu sortieren – soweit dies möglich und sinnvoll ist. Bei den Personen, bei denen eine Körperrekonstruktion zumindest in Teilen Erfolg versprechend ist, wird eine DNA-Probe entnommen und mit der Datenbank der Personenschutzabteilung abgeglichen. Wer oder was keine Identifizierung zulässt, wird gleichmäßig auf die restlichen Eimer verteilt und den Angehörigen – soweit vorhanden – zwecks, äh, Bestattung übergeben. Zu diesem Zweck haben wir einige anliegende Kellerbereiche geräumt und große Sortiertische aufstellen lassen. Aus gutem Grund werden die Räume klimatisiert, also ziehen Sie sich warm an. – Noch Fragen?»
    Niemand hebt die Hand.
    «Dann los! Und
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