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Die Spinne (German Edition)

Die Spinne (German Edition)

Titel: Die Spinne (German Edition)
Autoren: Olen Steinhauer
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etwas abgeebbt, als ein Soldat die Tür aufschloss. Xin Zhu trat ein und wies den Soldaten an, sie allein zu lassen.
    Der Mann war wirklich ein Koloss. Alle Quellen hatten das erwähnt – Henry Gray hatte immer wieder davon angefangen, und Andrei Stanescu hatte geradezu ehrfürchtig darüber gesprochen –, dennoch war er nicht vorbereitet darauf, wie der Chinese den kleinen Raum mit seiner Präsenz füllte. Alan hatte das Gefühl, sich an die Wand drücken zu müssen. Doch sein Zorn war so groß, dass er sich keine Regung anmerken ließ. Dreiunddreißig blau erstarrte Punkte trieben ihn dazu an, sich hochzurappeln und einen Schritt nach vorn zu machen. Er überlegte, ob er sein Gegenüber mit bloßen Händen erwürgen sollte. Möglich war es. In einem Granatapfelhain westlich von Kandahar im Bezirk Arghandab hatte er so etwas schon einmal getan. Es war schwer und langwierig und brutal, aber er hatte es getan, und nachdem er sich übergeben hatte, hatte er in der Nacht traumlos geschlafen. Alles war möglich.
    Vielleicht spürte er etwas von Alans innerem Aufruhr, denn Xin Zhu kam nicht näher. Er blieb an der Tür stehen und musterte ihn resigniert. Schließlich sagte er: »Sie sind ein Glückspilz.«
    »Anscheinend nicht so einer wie Sie.«
    Xin Zhu ging nicht auf diese Bemerkung ein. »Die Bomben wurden gefunden und entschärft. Ihre Kameraden sind gefasst. Ihre lächerliche Operation ist komplett gescheitert.«
    »Trotzdem sind Sie hier. Sehr gewagt.«
    »Ach, um mein Wohlergehen bin ich nicht besorgt. Zumindest nicht, was Sie betrifft. Die Soldaten hinter der Tür sind zur Stelle, bevor Sie mir ein Haar krümmen können. Die Folgen hätten Sie sich selbst zuzuschreiben.«
    Es klang nicht nach einem Bluff.
    Xin Zhu fuhr fort: »Ich wollte Sie kennenlernen, bevor Sie uns verlassen. Ich würde mich gern entschuldigen, doch wir wissen beide, dass das unaufrichtig wäre. Ich habe in einem bestimmten Augenblick getan, was ich für das Beste hielt, und es liegt in der Natur der Dinge, dass wir mit den Konsequenzen unserer Handlungen leben müssen. Bei mir wird das noch jahrelang der Fall sein. Und bei Ihnen wahrscheinlich auch.«
    Philosophie in der Zelle , dachte Alan. »Schluss jetzt. Wir sind nicht zu einem freundlichen Plausch hier. Bringen Sie es einfach hinter sich.«
    Xin Zhu nickte und betrachtete einen Moment seine dicken Finger. »Es ist vorbei mit den Gefälligkeiten. Ich werde nicht mein Leben damit zubringen, ihm Dinge zu schenken.«
    »Wem?«
    »Er hat es nicht verdient.«
    »Wer?«
    Xin Zhu hatte anscheinend kein Interesse daran, irgendetwas zu erklären. Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab und ging langsam hinaus. Als er die Tür schloss, bemerkte Alan, dass der Korridor völlig leer war. Xin Zhu hatte also doch geblufft.
    Als sie kamen, hatte er stundenlang über alles nachgegrübelt. Er kannte seine Fehler und sah ein, dass er sich von seinen Emotionen hatte hinreißen lassen. Letztlich war es seine militärische Ausbildung, die ihn davon überzeugte, dass Jammern keinen Sinn hatte. Was geschehen war, war geschehen. Noch mehr Philosophie in der Zelle. Er dachte nicht daran, was als Nächstes auf ihn wartete, denn auch das ließ sich nicht ändern. Xin Zhu hatte seine Entscheidung getroffen, und alles andere war nebensächlich.
    Doch eins nagte an ihm: die Befürchtung, dass Penelope schrecklich leiden würde, wenn er irgendwann – mit oder ohne Vorweisen einer Leiche – für tot erklärt wurde. Er hätte ihr gern eine Nachricht geschickt. Zumindest darum hätte er Xin Zhu bitten können.
    Drei Männer in Zivilkleidung holten ihn ab. Zwei waren mit Pistolen bewaffnet, während der Dritte nur voranschritt durch kahle Betongänge. Draußen empfingen ihn ein nächtliches Feld und etwas weiter weg neue, wie zerbrochene Zähne aufragende Gebäude. Jetzt erkannte er, dass er sich in einem zehnstöckigen Rohbau aufgehalten hatte. In der Ferne erblühte über der Stadt das Feuerwerk zur Eröffnung der Olympischen Spiele.
    Sie fuhren ihn durch spärlichen Verkehr. Weil ihm inzwischen alles egal war, fragte Alan die Leute, ob jemand die Übertragung der Spiele für sie aufnahm. Er formulierte die Frage auf Englisch, Französisch, Deutsch und Arabisch, aber er erhielt keine Antwort.
    Wieder ein Feld, eine löchrige Schotterstraße, und eine weiße zweimotorige Maschine auf einer verborgenen Rollbahn. Seine drei Begleiter ließen ihn am Fuß der Treppe stehen und fuhren weg. Erst als er zur Luke
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